Memoiren: erster Teil
Aus dem Leben meiner Großeltern, meiner Eltern, und aus meinem Leben.
Diese Aufzeichnungen schreibe ich, Ernst Ehrhardt, geboren am 6. September 1855, im Herbst des Jahres 1924, in der stillen Zurückgezogenheit eines im Ruhestande lebenden Beamten, der mit Dank gegen die Vorsehung auf die vielfach verschlungenen Wegen seiner Vergangenheit zurückschaut und mit Mut und Gottvertrauen den Tagen entgegensieht, die ihm noch beschieden sein werden.
Die Wege, die mich das Schicksal bis heute geführt hat, sind nicht immer glatt und eben, sondern manchmal recht steil und holprig gewesen. An ihren Seiten haben oft Blumen, zuweilen aber auch Gewächse mit spitzen Dornen gestanden. Vor all diesem, und wie mich ein gnädiges Geschick bis heute durch das Leben geführt hat, will ich nun getreu und der Wahrheit gemäß berichten. Zunächst aber soll meiner Vorfahren, meiner Großeltern und Eltern gedacht, und aus ihrem Leben das hier niedergelegt werden, was mir denkwürdig und mitteilenswert erscheint.
Die Großeltern
Mein Großvater Friedrich Gotthelf Ehrhardt liebte es, von seinen Erlebnissen zu erzählen. Auch mein Vater Heinrich Ehrhardt hat mir viele Mitteilungen aus seiner Eltern und seinem eigenen Leben gemacht. Was mit Beide erzählt haben, ist mir fest im Gedächtnis haften geblieben. Mein Großvater Ehrhardt hat auch schriftliche Aufzeichnungen über seine Erlebnisse, von seiner frühesten Kindheit an bis zum Jahre 1865 hinterlassen. Diese habe ich, als ich in Mülheim a. d. Ruhr die Schule besuchte, als Knabe oft gelesen. Sie kamen nach seinem Tode in den Besitz der Familie meines Onkels Friedrich Ehrhardt, wanderten mit ihr nach Amerika und kamen endlich, nachdem ich mehr als fünfzig Jahre lang sie für verloren gehalten hatte, unverhofft durch die Güte meines Vetters Leo Ehrhardt, Predigers zu Brazil in Indiana, in meinen Besitz. Mögen meine Nachkommen sie in Ehren halten.
Andere Mitteilungen aus dem Leben meiner Großaltern, und zwar der Eltern sowohl meines Vaters, als auch meiner Mutter, haben mir meine Mutter und die Schwestern meines Vaters gemacht. Ich bin gewiß, daß alle diese Mitteilungen, wie auch die über meine Eltern und nächsten Verwandten und über den Verlauf meines eigenen Lebens, die Teilnahme meines einzigen Kindes, meines Sohnes Liemar, finden werden. Für ihn unternehme ich es, in beschaulicher Ruhe, aber in schwerer, bedrängter Zeit, sie aufzuzeichnen. Möge er aus ihnen die Lehre schöpfen, daß man nur mit eigener Kraft, mit Arbeit und Fleiß, mit Redlichkeit und Treue gut und mit Ehren durch die Welt kommt.
Der Urgroßvater meines Großvaters Ehrhardt war unter den Salzburgern, die in den Jahren 1730 und 1731 ihres protestantischen Bekenntnisses wegen ihre Heimat verlassen mussten. Er wandte sich mit seiner Familie nach Sachsen und fand in oder bei der Stadt Altenberg im sächsischen Erzgebirge eine neue Heimat. Hier bezog er eines der Häuser, die der damalige Landesherr für die Vertriebenen hatte erbauen lassen. Er scheint Bergmann gewesen zu sein. In jener hochgelegenen Gebirgsgegend müssen Frauen und Kinder mit spitzen Klöppeln im Hause Geld verdienen und so zum Lebensunterhalt beitragen. Auch mein Großvater hat in frühester Jugend Spitzen klöppeln müssen. Er erzählte einmal, oft habe ihn dabei seine Mutter mit dem hölzernen Kochlöffel zum Fleiß anhalten müssen. Der Vater meines Großvaters arbeitete auf einer Erzgrube. In seinem Hause hatte er auf dem Boden eine Tischlerwerkstatt, in der sich auch mein Großvater gegen den Willen seines Vaters oft beschäftigte. Hier lernte er so viel, daß er später im Ruhrgebiet eine Zeit lang sein Brot als Modelltischler verdienen konnte. Ein solcher Handwerker fertigt die hölzernen Modelle zum Gusse metallener Gegenstände an. Mit Tischlerarbeit hatte er sich bis in sein hohes Alter hinein in seinen Mußestunden immer gern beschäftigt.
Mein Großvater wurde im Jahre 1793 in Georgenfeld bei Zinnwald, nicht weit von Altenberg, geboren. In der Taufe erhielt er die Namen Friedrich Gotthelf. Eine gute Schulbildung hat er nicht genossen, denn damals gab es in Sachsen noch keinen Schulzwang, und außerdem mussten die Kindern durch Arbeiten im Hause zum Lebensunterhalt beitragen. Noch besitze ich die Abschrift eines Briefes aus dem Jahre 1866, den der Großvater in Mülheim a. d. Ruhr an seine jüngste Tochter geschrieben hat. Dieser Brief, noch mehr aber der von ihm verfasste Lebenslauf, beweist, daß ihm Rechtschreibung und gute Satzbildung nicht geläufig gewesen sind. Rechnen hat er in der Schule gar nicht gelernt. Die Eltern meines Großvaters hatten bei ihrem Hause einige kleine Stücke Land, die ihnen Kartoffeln und Gras für eine Kuh lieferten. Da die Kartoffeln in jeder hohen Gebirgsgegend aber nicht immer reif werden, so mag oft bittere Not in das kleine Haus eingezogen sein. Im achten Jahre musste mein Großvater schon von Morgen bis zum Abend auf einer Pochmühle arbeiten. Zehn Jahre alt, fand er Arbeit auf einem Bergwerk. Dann wurde er Lehrhauer, später Vollhauer. Gleichzeitig verdiente er etwas Geld durch Arbeiten im Walde. Etwa 16 Jahre war er alt, da lernte er einen Bergmann kennen, der ihn dazu verführte, mit ihm in die Fremde zu gehen. Er verließ seine Eltern und seines Vaters Haus und ging mit seinem Verführer durch Schlesien nach Waldenburg, dann nach Böhmen bis Budweis, weil sie die Absicht hatten, Steiermark zu erreichen und dort Arbeit zu nehmen. Doch bevor es zur Ausführung dieses Vorhabens kam, entstand zwischen Beiden ein heftiger Streit. Da kehrte mein Großvater wieder um, denn er wollte sich von seinem Begleiter trennen. Dieser blieb aber an seiner Seite, und nun zogen beide über Passau, Nürnberg, Hanau, Siegen nach Wetter a. d. Ruhr. Hier gab ihnen das Bergamt Arbeit in Brüninghausen. Bald trennte sich nun mein Großvater von seinem Gefährten. Er fand Arbeit auf anderen Zechen, arbeitete auf der Kohlenzeche Eintracht Tiefbau bei Steele a. d. Ruhr und wurde dann Kohlenhauer auf der Zeche Rosenblumendelle zwischen Essen und Mülheim a. d. Ruhr. Als er in Brüninghausen beschäftigt war, sah er auf einem Schacht der Zeche Vollmond in Werne bei Langendreer in Westfalen eine durch Dampf getriebene Wasserhebemaschine. Sie stand wahrscheinlich auf einem Schacht in der Nähe des Bauernhofes Hellbrügge. Dieser Schacht ist längst abgebrochen. Mein Großvater musste einen langen Weg zurücklegen, um diese Maschine zu sehen, und es scheint, als ob ihr Anblick der in ihm schlummernden Lust an technischen Dingen insbesondere an Dampfmaschinen, einen mächtigen Antrieb gegeben habe. Er erzählte, auch auf der Zeche Rosenblumendelle sei eine solche Maschine in Betrieb gewesen, und oft habe er davon gestanden und sich gewünscht, Maschinenwärter zu sein. Aber vorläufig musste er Kohlenhauer bleiben. Er verdiente Geld und beabsichtigte, zu seinen Eltern zurückzukehren, wenn er hundert Taler gespart hätte. Doch das Geschick wollte es anders und wollte ihn vorher durch schwere Trübsal führen.
Im September des Jahres 1812, als die große französische Armee nach Rußland zog, kam mein Großvater eines Tages aus der Grube und sah auf der Hängebank zwei Gendarmen stehen. Diese verhafteten ihn, weil er Sachse war, und führten ihn in seinen Grubenkleidern durch die Stadt Mülheim nach Broich, wo er ins Gefängnis gesetzt wurde. Dann brachte man ihn nach Essen, wieder sieben Tage hinter Schloß und Riegel. Weiter ging der Transport nach Bochum, Hamm, dann nach Hildesheim, wo mein Großvater nebst einigen Schicksalsgenossen schwer erkrankte. Darauf brachte man ihn mit einem Leiterwagen nach Braunschweig in das Militärlazarett. Hier lag er drei Wochen ohne Besinnung. Erst nach einer Woche ging die Reise weiter, nach Halle an der Saale. Von da brachte ihn ein Gendarm an die sächsische Grenze, gab ihn frei und empfahl ihn Gott und guten Leuten.
In seinem Vaterlande ging nun die Reise weiter in der Richtung nach seiner Heimat, doch von Gefängnis zu Gefängnis. Bis zur Stadt Colditz war er gekommen, da ereilte ihn sein Geschick. Wieder wurde er verhaftet und eingesperrt, diesmal, um unter die Rekruten gesteckt zu werden. So griff man damals die Leute auf der Straße auf. Mein Großvater wurde in das sächsische Ulanenregiment Prinz Klemens eingestellt. Das war im Frühling 1819. So war er denn Soldat im sächsischen Heer geworden, das bis zur Schlacht bei Leipzig unter dem Oberbefahl des französischen Kaisers gegen die Verbündeten kämpfte. In Mülheim erzählte und der Großvater einmal, ihm und seinen Kameraden sei beigebracht worden, zur Begrüßung des Kaisers Napoleon kräftig vive l’empereur zu rufen. Das mag aus dem Munde der jungen sächsischen Soldaten wunderlich geklungen haben.
In seiner Lebensbeschreibung schilderte mein Großvater, wie er eines Tages im Kriege, nachdem er seinen Eltern einen Brief geschrieben hatte, seine Mutter wiedersah. Das Regiment stand in Adorf an der bayrischen Grenze. Da ließ ihn sein Wachtmeister holen. Er trat in das Zimmer, und da saß seine Mutter auf der Ofenbank. Weinend schloß sie ihren Sohn in die Arme. Den langen Weg von Georgenfeld bei Zinnwald bis Adorf, weit über hundert Kilometer, hatte sie in nasskaltem Frühlingswetter zu Fuß zurückgelegt, um ihr Kind wiederzusehen. Ein paar Tage blieb sie, dann begab sie sich wieder auf den Heimweg.
Von Adorf ging der Marsch des Regiments nach Regensburg. Dann wurden die Sachsen in ihr Land gezogen und französischem Oberbefehl unterstellt. Bei Bautzen am 20 und 21. Mai 1813 erhielt das Regiment seine Feuertaufe. Eine Reihe von Gefechten auf schlesischem Boden schloß sich an. Bei einem dieser Gefechte wurde dem Pferde des Nebenmannes meines Großvaters durch eine Granate das linke Vorderbein abgerissen. Er selbst fiel von seinem sich bäumenden Pferde und lag eine Zeit lang besinnungslos. Bald darauf geriet mein Großvater in einer finsteren Nacht beim Aufmarsch in Reih und Glied in einem Sumpf, in den sein Pferd soweit einsank, bis er mit den Füßen den Boden berührte. Da prügelte ihn der Wachtmeister so arg, daß er am andern Morgen nur mit Hülfe seiner Kameraden sein Pferd besteigen konnte. Diese rohe Behandlung veranlaßte meinen Großvater, auf Flucht zu sinnen. Nachdem er sich Zivilkleider verschafft hatte, die er gut zu verbergen wusste, führte er seinen Plan in einer ruhigen Nacht aus. Den Mantel und die Waffen ließ er bei dem Pferde zurück, nur seinen Futtersack nahm er mit. Es gelang ihm, durch die Vorpostenkette zu kommen. Als es Tag wurde, verbarg er sich in einem dickten Tannenwalde. Als er Trommelschläge hörte, kletterte er auf eine hohe Tanne und sah eine große Menge Franzosen sich nähern. Schnell suchte er seinen Schlupfwinkel wieder auf, um dort zu bleiben, bis die Gefahr vorüber war. Die Uniform hatte er schon mit den Zivilkleidern vertauscht. Als er sich der Schneekoppe näherte, kam er an einen breiten und tiefen Fluß, an dem eine Mühle lag. Hier war auch ein Übergang auf einer Schlagd. Um diesen zu benutzen, musste er die Mühle betreten. Er ging in das Haus und der Müller trat ihm entgegen. Diesen bat er zunächst um ein Stück Brot, da er fünf Tage nichts gegessen habe. Der Müller war barmherzig, gab ihm Brot und Geld, führte ihn über die Schlagd und befahl ihn Gott. Der Mann war vermutlich ein Herrnhüter.
Diese Begegnung hat mein Großvater als seine Rettung aus höchster Not angesehen und gefeiert. Den Jahrestag beging er bis in sein Greisenalter durch Fasten. Denn er war ein frommer Mann und glaubte, damit ein Gott wohlgefälliges Werk zu tun. Bald nach dieser glücklichen Rettung hatte er in einer Nacht ein ärgerliches Erlebnis. Am Ufer eines Baches, nahe bei einem Dorfe hatte er sich zum Schlafen hingelegt. Da stöberten ihn zwei große Hunde auf, die einen fürchterlichen Lärm machten. Er musste sein Heil in eiliger Flucht suchen. Am anderen Tage überschritt er die Grenze und kam nach Böhmen. Endlich kam er glücklich nach Zinnwald, das auf der sächsisch böhmischen Grenze liegt, und nach Georgenfeld zu seinen Eltern. Aber bald ging er wieder über die Grenze nach Böhmen und nahm auf Braunkohlgruben Arbeit. Hier besuchte ihn oft seine Mutter. Der Vater starb im Winter 1813-1814. Jetzt musste der Sohn seine Mutter mit Geld unterstützen, denn die Familie war inzwischen bettelarm geworden. Das war so zugegangen:
Im Jahre 1813 kamen die Franzosen nach Georgenfeld. Sie hausten dort wie Vandalen, raubten und plünderten, und zerschlugen auch im Hause meines Urgroßvaters alle Gebrauchsgegenstände. Selbst Türen und Fenster hoben sie aus, um, Brennholz zu gewinnen. Im Streit mit einem Soldaten um das letzte Hemd wurde meine Großmutter an einer Hand verwundet. Dann mussten die Eltern mit drei unerwachsenen Kindern in die Wälder flüchten, um das nackte Leben zu retten. Zehn Wochen haben sie sich verbergen müssen. Als mein Urgroßvater starb, ließ er seine Familie in bitterster Not zurück. Die Mutter und die Kinder mussten sich mit Strohflechten ernähren. Ein Glück, daß mein Großvater nicht weit von Georgenfeld in Arbeit stand und seiner Mutter mit Geld unterstützen konnte.
Fünf Jahre blieb mein Großvater in Böhmen, bis zum Mai 1818. Da kehrte er in seine Heimat zurück und nahm einen Pass ins Ausland. Er verließ seine Mutter, und sein Weg führte ihn wieder in das Ruhrkohlengebiet, zur Zeche Rosenblumendelle zwischen Essen und Mülheim a. d. Ruhr. Meine Tante Karoline Bernau, die älteste Tochter meines Großvaters, hat mit mitgeteilt, der Großvater habe die Absicht gehabt, nach Amerika auszuwandern und sei mit diesem Vorhaben nach Mülheim gekommen. Ob das richtig ist, habe ich nicht feststellen können. Aber sei dem wie ihm wolle. Hier in Mülheim machte ein Ereignis besonderer Art seiner Auswanderlust ein jähes Ende und zwang ihn, den Wanderstab nieder zu legen, und ansässig zu werden.
Und das kam so: Bei dem Bürgermeister Michels in Mülheim diente zu jener Zeit als Stütze ein junges, vermutlich auch hübsches Mädchen, die hochachtbare Jungfrau Katharina Schmalhaus aus Speldorf. Dieses ahnungslose weibliche Wesen erhob das Schicksal zu einem Werkzeug gegen den Entschluß meines Großvaters. Bei irgend einer Gelegenheit kam sie mit meinem Großvater ins Gespräch. Als sie hörte, daß er auswandern wolle, um anderswo sein Brot zu verdienen, fragte sie ihn, ob denn in Deutschland kein Brot gebacken würde. Dieses Gespräch, wohl auch die Anmut besagter Jungfrau hat dem Entschluß meines Großvaters einen Stoß versetzt, so stark, daß er ins Wanken kam. Das Ende dieser schönen und nachdenklichen Geschichte ist, daß mein Großvater im Lande blieb und fortan seinen Wohnsitz, wie der freundliche Leser oder die anmutige Leserin wohl längst erraten haben, in Mülheim nahm. Die Jungfrau Schmalhaus führte er im schönen Maimonat des Jahres 1820 heim. Lange waren Beide in glücklicher Ehe miteinander verbunden. Als Knabe bin ich oft in ihrem schönen Hause in Steele gewesen, wo die beiden Alten im Genuß der Güter, die ihnen das Schicksal reichlich zugemessen hatte, in Liebe, Eintracht und Gesundheit miteinander lebten.
Vor seiner Verheiratung arbeitete mein Großvater auf der Zeche Wiesche als Kohlenhauer. Dann wurde er Maschinenwärter, und so sah er denn seinen Wunsch, mit Maschinen in nähere Verbindung zu treten endlich erfüllt. Schon im Jahre 1821 nahm er Arbeit in der kleinen Maschinenwerkstatt von Johann Vinnendahl in Mülheim, aus der sich in späteren Jahren die große Friedrich Wilhelmshütte entwickelt hat. Es scheint, als ob er dort zunächst als Modelltischler beschäftigt worden sei. Er muss aber auch in anderen Dingen Erfahrungen gesammelt haben, denn bald wurde er Monteur. Als solcher musste er an vielen Orten die in Mülheim gebauten Dampfmaschinen aufstellen und in Gang bringen. So erwarb er sich eine gründliche Kenntnis des Maschinenwesens.
In jener Zeit wohnte er in Mülheim in einem kleinen Häuschen an der Delle, nicht weit von der Petrikirche. Ich habe es oft betrachtete, als ich in Mülheim lebte, denn mein Vater war darin geboren. Es lag etwas von der Straße bescheiden auf einem Hofe, zu dem vor der Delle her ein Gang führte. Längst ist es von der Erde verschwunden.
Ein Jahr nach der Hochzeit besuchte die Mutter Ehrhardt ihren Sohn. Sie brachte ihren jüngsten Sohn Wilhelm mit, der in Mülheim vier Jahre blieb, dann aber, nachdem er dort konfirmiert worden war und auf der Zeche Wiesche als Schlepper gearbeitet hatte, in seine sächsische Heimat zurückkehrte.
Im Jahre 1829 wurde mein Großvater Maschinensteiger auf der Zeche Gewalt bei Überruhr gegenüber Steele. Vier Jahre später wurde er auf Vorschlag des Bergamtes in Essen königlicher Maschinenwerkmeister für die Maschinen sämtlicher Zechen des Essener Reviers. Eine lange Reihe von Jahren wirkte er in dieser Stellung. Sein Amt zu versehen wurde ihm nicht leicht, denn er musste zu den Zechen zu Fuß wandern und erhielt dafür keine besondere Entschädigung. Auf der Zeche Gewalt aber blieb er während dieser Zeit wohnen. Dort verlebten auch seine vier Kinder ihre Jugendjahre.
Im Jahre 1848 erhielt er das ellgemeine Ehrenzeichen für treue Dienste. In seiner Lebensbeschreibung sagt mein Großvater, er sei bei seiner Ausstellung in große Verlegenheit geraten, weil er nicht habe ordentlich rechnen können. Schon ein halbes Jahr war er im königlichen Dienst, da erst brachte ihm ein Bergbeflissener das Rechnen mit Dezimalbrüchen bei.
Die Stellung im königlichen Dienst behielt mein Großvater bis zum Jahre 1858. Da wurden die Werkmeisterstellen aufgehoben. Er war noch nicht aus dem Dienst geschieden, da traten die Verwaltungen einer Reihe von Zechen zusammen und machten ihm das Anerbieten, in ihre Dienste zu treten. Es handelte sich um die Zechen Deimelsberg, Eintracht Tiefbau, Münkersbank, Altendorf, Henriette und Prinz Wilhelm, die alle bei Steele liegen. Die Gänge zu diesen Zechen machte er stets zu Fuß. IM Ruhrgebiet um Steele erwarb sich mein Großvater bald den Ruf eines kenntnisreichen, praktisch wohl erfahrenen Mannes. Überall wurde er „der alte Ehrhardt“ genannt, und oft zog man ihn zu Rate, wenn eine Maschine nicht so recht gehen wollte, wie sie sollte. Es kamen auch jüngere Leute zu ihm, die sich unter seiner Anleitung im Maschinenzeichnen und in der Maschinenkunde ausbildeten, schon in der Zeit, als er noch auf der Zeche Gewalt wohnte. Das Maschinenzeichnen hatte er in der Werkstatt von Vinnendahl aufgeschnappt.
In Steele a. d. Ruhr, etwas außerhalb der Stadt, baute er sich im Jahre 1857 auf einem großen Grundstück ein Haus. Der wohlgepflegte Garten mit seinen Blumen und Früchten war das Paradies meiner Kindheit und mein Tummelplatz, wenn ich mit meinen Eltern oder allein die Großaltern besuchen durfte.
Im Laufe der Jahre gab der Großvater eine Zeche nach der anderen ab. Schließlich hatte er nur noch wenige Zechen. Zu diesen habe ich als Knabe ihn oft begleitet. Es war ein Fest für mich, wenn ich mit meinem lieben Großvater gehen durfte. Ich sah, wie man ihn überall grüßte und ihm ehrend begegnete. Auf meine jugendlichen Angelegenheiten, von denen ich annahm, sie müßten ihm ebenso wichtig erscheinen wie mir, ging es stets gütig, liebevoll Teil nehmend, zuweilen auch schmunzelnd ein. Dieses schöne Verhältnis zwischen uns Beiden bestand auch fort, als ich in Mülheim a. d. Ruhr im Hause meines Onkels lebte und dort den Großvater täglich sah. In der Gemeinde Relinghausen bei Steele begleitete er das Amt eines Kirchenältesten. Er trat auch mit Verbesserungen im Maschinenwesen hervor. So machte er den Vorschlag, die Wasserhebemaschinen nicht mehr seitwärts neben dem Pumpenschacht, sondern unmittelbar über dem Schacht aufzustellen. Den Bergämtern im Ruhrrevier versuchte er, wie mir mein Vater erzählt hat, seinen Vorschlag durch Modelle, die er sich selbst mit viel Mühe anfertigte oder herstellen ließ, deutlich zu machen.
Als meine Großmutter im Jahre 1865 gestorben war, zog der nun einsam gewordene Mann, dessen Kinder sich sämtlich verheiratet hatten, nach Mülheim in das Haus und die Familie seines ältesten Sohnes Friedrich. (1866) In dessen Hause an der Eppinghofer Straße bezog er ein Zimmer, in dem er wohnte und schlief. Mein Onkel hatte ihm in einem Nebengebäude des Grundstücks in einem ehemaligen Stall, eine Werkstatt einrichten lassen, denn von seiner Lieblingsbeschäftigung, der Tischlerei, ließ er auch jetzt nicht. In dieser Werkstatt arbeitete er vom frühen Morgen bis zum Abend eifrig. Er fertigte aber nur Gegenstände an, die er seinen Kindern und Enkeln schenkte, Füße für Weihnachtsbäume, Salzfässer aus zwei verschieden gefärbten Holzarten, niedliche Kästen, kleine Schränke und andere Gegenstände. Als das nicht mehr ging, arbeitete er auf seinem Zimmer. Da fertigte er aus Pappe und Brettchen runde Schachteln zum Aufbewahren gerollter Zeichnungen und anderer Dinge. Alles konnte er, denn er hatte sich in Vielem versucht. Als ich in Mülheim im Hause meines Onkels wohnte, ging ich oft in meinen kleinen Nöten zu ihm und war gewiß, daß er mir half. Zuweilen besuchte er morgens den Mülheimer Wochenmarkt. Dann brachte er immer meiner Tante ein Geschenk mit. Ich seh ihn noch auf der Straße, wie er stattlich, breitschultrig und ungebeugt, die meisten Menschen an Größe überragend, langsam einherschritt, auf dem Kopfe im Winter eine Pelzmütze, unter deren Rand die weißen Locken hervorquollen, im langen Mantel mit der rechten Hand den Stock führend, in der linken Hand, in ein Taschentuch eingewickelt, seinen Einkauf haltend. Dieses Bild haftet unauslöschlich in meiner Erinnerung.
Von den Verwaltungen der Gruben, in deren Dienst er in Steele gestanden hatte, bezog er ein auskömmliches Ruhegehalt, das nicht völlig verbraucht wurde.
In den letzten Jahrzehnten seines Lebens hörte mein Großvater schwer. Ein Hörrohr trug er aber nicht. Als alter Krieger nahm er selbstverständlich den lebhaftesten Anteil an den Ereignissen des Krieges 1870 und 1871. Brachten wir damals in Mülheim eine neue Nachricht aus der Stadt mit nach Hause, dann eilten wir damit zuerst zum Großvater. Er hatte eine feste Gesundheit. Ich erinnere mich aber, daß er in seinen letzten Jahren oft an quälenden Magenkrämpfen litt. Als Sachse geboren, war er doch völlig frei von sächsischem Dialekt. Zum letzten Mal sah ich ihn im Herbst des Jahres 1871. Am 30. Januar 1872 starb er. Auf dem Friedhof in Mülheim ruht er von seinem so bewegten, aber gesegnetem Leben aus. Sein Haus in Steele ist nach seinem Tode verkauft worden und nun in fremder Leute Besitz. Mein Vater hat oft bereut, es nicht erworben zu haben.
Meine Großmutter Katharina Ehrhardt geborene Schmalhaus ist in den letzten Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in Speldorf zur Welt gekommen. Dieser Ort liegt an der vom Mülheim nach Duisburg führenden Landstraße. Dort lebten noch in den siebziger Jahren Verwandte der Großmutter. Die lebhafteste Erinnerung habe ich an einen Bruder der Großmutter namens Matthias, der Schuhmachermeister war und in einem kleinen Häuslein dicht an der Landstraße wohnte. Wir nannten ihn den Onkel Matthes. Als junges Mädchen kam meine Großmutter nach Mülheim in das Haus des Bürgermeisters Michels, von dem schon die Rede gewesen ist. In dieser Stellung blieb sie neun Jahre. Sie muss wohl treu gedient haben, denn als die Frau Bürgermeisterin auf dem Sterbebette lag, da nahm sie ihr das Versprechen ab, den Herrn Bürgermeister und sein Haus nicht zu verlassen, er sei denn, daß sie heirate. Als die Nachricht vom Siege bei Waterloo nach Mülheim kam, zuerst zum Bürgermeister, sandte dieser sofort meine Großmutter aus, die Kunde seinen Freunden und Bekannten in der Stadt zu überbringen.
Das Bild meiner Großmutter steht mir noch deutlich vor Augen, wenn auch nicht so klar wie das meines Großvaters, der sie ja überlebte. Ich sah sie nur, wenn ich meinen Vater nach Steele begleitete, einer Stadt, die etwa 16 Kilometer vor dem damaligen Wohnsitze meiner Eltern, Werne bei Langendreer, entfernt liegt. Dann durfte ich zuweilen Tage lang bei den Großaltern bleiben und in dem großen Garten an ihrem Hause Beeren pflücken und essen soviel ich wollte. Ich erinnere mich, daß ich der Großmutter einmal einige in der Dorfschule gelernte Gedichte aufsagen sollte. Da brachte ich denn zum Vorschein, was ich zur Verherrlichung der Schlacht bei Leipzig und an sonstigen Kriegsgesängen auswendig wußte. Damit glaubte ich ihr einen gewaltigen Eindruck zu machen. Doch da sagte sie : „Kannst Du denn keine anderen Gedichte als solche, die von Krieg und Schlachten handeln?“ Als es zum Sterben ging und sie fühlte, daß der Tod ihr nahe, sprach sie:“ Aus der tiefen, großen Not schreie ich zu Dir.“ Das waren ihre letzten Worte. Auf dem hochgelegenen Friedhof bei der evangelischen Kirche in Steele, nicht weit von der nach Essen führenden Bahn ruht sie aus von den Mühen ihres Lebens. Sie starb im Jahre 1864.
Ein Bruder meiner Großmutter, der schon erwähnte Onkel Matthes, nahm Reißaus, als die Franzosen nach Speldorf kamen, denn er musste fürchten, angegriffen und unter die Soldaten gesteckt zu werden. Er kroch in das Stroh eines Bauernwagens, um so durch die französischen Linien in noch nicht besetztes Gebiet zu gelangen. Die Franzosen hielten den Bauern an und stachen mit ihren Stäben durch da Stroh, verletzten aber den Versteckten nicht und ließen den Wagen ziehen. Darauf nahm der so glücklich entschlüpfte Dienste auf dem Gute des Amtmanns Schragmüller bei Bochum, und damit ihn die Franzosen nicht doch noch erwischten, trug er Frauenkleider. So entging er ihren Anschlägen.
Dieser Mann spielte deshalb in den Erinnerungen aus meiner Knabenzeit eine Rolle, weil auf dem Hofe neben seinem Hause in Speldorf Kirschbäume standen, an deren süßen hellen Früchten mit zarten roten Backen ich mich oft gelabt habe. Früher hat mir zuweilen das Gewissen geschlagen, wenn von dem „Onkel Matthes“ gesprochen wurde, denn an seinen Namen knüpfte sich neben der Erinnerung an die Kirschen das Andenken an eine meiner jugendlichen Untaten. Aber das hat sich nun gelegt. Es sind fast 55 Jahre seitdem in die Ewigkeit gegangen und über jene Geschichte ist längst eine dicke Grasnarbe gewachsen. Auf diese Tat werde ich noch zurückkommen, denn sie soll dem Leser ebensowenig vorenthalten werden, wie die Berichte über Ereignisse, die mich in einem vorteilhaften Licht erscheinen lassen.
Ein Vetter meines Vaters, ein Schuhmachermeister namens Schmalhaus, wohnte in dem Dorfe Fulerum bei Mülheim. Dort hatte er bei seinem kleinen Hause Garten und Feld. Mit deren Erträgnissen und mit seinem Handwerk ernährte er seine zahlreiche Familie. Einer seiner Söhne, Hermann Schmalhaus, ein strebsamer Jüngling, der noch im Alter von 24 Jahren seine elementaren Schulkenntnisse zu vermehren bestrebt war, lebte längere Zeit im Hause meiner Eltern. Er wohnt jetzt als pensionierter Maschinenwärter der Wasserwerke in Villigst bei Schwerte an der Ruhr. Mit ihm stehe ich noch in schriftlicher Verbindung. Dieser ferne Verwandte Hermann Schmalhaus besuchte zuweilen an Sonntagen seine Eltern in Fulerum. An einem solchen Sonntag kam zu uns mein kleiner, etwa 8 Jahre alter Vetter Gustav Leineweber. Da wir gerade Besuch hatten, so entstand eine kleine Schwierigkeit, ihn für die Nacht unterzubringen. Doch meine Mutter wußte Rat, sie steckt ihn am Sonntag Abend in Hermanns Bett in der Annahme, der rechtmäßige Inhaber werde erst wie gewöhnlich, am Montag Morgen zurückkehren. Doch Hermann kam diesmal schon am Sonntag Abend spät nach Hause, als bei uns schon alles schlief. Er fand zu seiner Verwunderung meinen Vetter Gustav in seinem Bett vor, betrachtete das ihm völlig fremde kleine Männchen und vermutete, daß der Schläfer Gustav Leineweber sei, von dessen bevorstehender Ankunft er gehört hatte. Er zog sich leise aus, um den Schlaf des Jungen nicht zu stören und legte sich zu ihm in das Bett. In der Nacht erwachte Gustav und machte die fatale Entdeckung, daß er nicht mehr alleine im Bette lag. Entsetzen erfaßte ihn, denn er wußte nicht, wie der Mensch in sein Bett gekommen war. Er verhielt sich aber mäuschenstill, stand leise auf und schlich sich aus dem Zimmer, um bei mir Hülfe zu suchen. In der Nacht hörte ich ein leises Pochen, ich erhob mich, öffnete die Tür, und da stand mein kleiner Vetter im bloßen Hemd, vor Kälte zitternd und flüsterte: „ Ernst, in meinem Bett liegt ein fremder Kerl.“ Ich ließ ihn eintreten, klärte ihn über den „fremden Kerl“ auf und gewährte ihm für den Rest der Nacht Unterkunft in meinem Schlafzimmer.
Ein anderer Schmalhaus, der längere Zeit bei meinem Großvater in Steele wohnte, wurde Obersteiger auf der nah bei Steele liegenden Zeche Deimelsberg. Meiner Großaltern Kinder sind in Mülheim und auf der Zeche Gewalt geboren worden. Der älteste Sohn war Friedrich Ehrhardt. Er widmete sich dem Maschinenfach und ließ sich in Mülheim als Zivilingenieur nieder. Hier bewohnte er an der Eppinghofer Straße ein schönes Haus mit großem Garten. Auf vielen Zechen Rheinlands und in Westfalen sind nach seinen Entwürfen doppelwirkende Wasserhebemaschinen aufgestellt worden. Das Patent verkaufte er nach Belgien. IN seinem Buche über die Entwicklung der Dampfmaschine im zweiten Bande, Seite 275, spricht der Ingenieur Matschos über die doppelwirkenden Wasserhebemaschinen. Sie seien, sagte er, in Deutschland von Ehrhardt in Mülheim an der Ruhr eingeführt worden, und seiner Zeit habe man sie als einen wichtigen Fortschritt angesehen. Dem muss ich hinzufügen, daß diese Fassung zu Mißverständnissen Anlaß geben kann. Mein Onkel ist nicht der Einführer einer anderswo gemachten Erfindung, sondern der Erfinder dieser Art von Wasserhebemaschinen. Ihre Bauart wurde ausdrücklich als „System Ehrhardt“ bezeichnet. Die Idee stammt vom Großvater. Einst wurde mein Onkel als Gutachter, oder um Maschinen aufzustellen, nach Wieliczka gerufen, wo das berühmte Salzbergwerk ersoffen war. Auf dieser Reise holte er sich eine schwere Erkältung, aus der sich eine Krankheit entwickelte. Als ich ihm in dieser Zeit seines Siechtums einmal besuchte und ihm mitteilte, ich habe mich entschlossen, Baufach zu studieren, da bezeugte er lebhafte Freude über meinen Entschluß. Die Krankheit führte am 1. März 1876 seinen frühzeitigen Tod herbei.
Dieser Onkel war sehr verschieden von meinem Vater, ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit einem rotbraunen Vollbart und vollem Haupthaar. Er war sehr streng gegen seine Kinder, anders als mein ruhiger, nachsichtiger und immer gütiger Vater.
Seine Frau, meine stets fürsorgliche und mir wohlgesinnte Tante Hannchen, eine geborene Diekmann aus Hattingen, überlebte meinen Onkel und blieb im Hause. Dort habe ich sie einmal von Fulerum aus besucht. Sie ist später einer Sekte beigetreten und auf Veranlassung ihrer Glaubensgenossen nach Amerika ausgewandert, wo sie 1911 starb. Des Onkels und der Tante Kinder sind:
Friedrich Ehrhardt, der zur See ging und verschollen ist. Viele Jahre hat die immer hoffende Mutter auf seinen Rückkehr gewartet.
Ernestine Ehrhardt. Sie vermählte sich im Jahre 1871 mit dem Lehrer an der Realschule Dr. W. Kaiser, zuerst in Mülheim, dann in Essen, zuletzt in Elberfeld, wo er gestorben ist. Darauf heiratete sie ihren zweiten Mann namens Nixe, der aber bald starb. Ihr ältester Sohn aus der ersten Ehe ist der Mineraloge und Geologe Erich Kaiser, jetzt Professor an der Universität in München. Bei den Untersuchungen über die Verwitterung der Steine am Kölner Dom hat er eine wichtige Rolle gespielt. Ernestine lebt heute noch in Elberfeld.
Heinrich Ehrhardt. Er ging als Architekt nach Belgien und wanderte dann nach Amerika aus. Ob er sich verheiratet hat, konnte ich nicht ermitteln.
Karoline Ehrhardt. Sie ging mit ihrer Mutter nach Amerika.
Gustav Ehrhardt, in Mülheim mein Genosse und eine Zeit lang auch mein Schulkamerad. Er war Nachtwandler und ist mehrere Jahre nach seines Vaters Tod nachts vom Dache auf die Straße gestürzt und eines jähen Todes gestorben.
Leo Ehrhardt. Er begleitete seine Mutter nach Amerika und wirkte dort als Prediger, vermutlich im Dienste der Sekte. Er ist verheiratet und hat einen Sohn und zwei Töchter.
Das zweite Kind meiner Großeltern war eine Tochter Karoline Ehrhardt. Sie verheiratete sich mit Ernst Bernau, dem Sohn eines Lehrers zu Menden in Westfalen. Bernau hatte sich dem Baufach gewidmet, war zunächst auf der Zeche Hannover angestellt und dann in Essen und Düsseldorf als Architekt tätig. Darauf wurde er Beamter einer Bergwerk-Berufsgenossenschaft. Ernst Bernau und seine Frau ruhen auf dem Düsseldorfer Südfriedhof nahe dem Grabe meiner Mutter. Beiden schulde ich viel Dank, denn sie haben sich liebevoll meiner angenommen, als ich in Düsseldorf Baueleve war und bei ihnen wohnte. Die Kinder dieses Ehepaares sind:
Karl Bernau, ebenfalls verheiratet. Er wohnt auch in Düsseldorf.
August Bernau und Albert Bernau. Beide sind unverheiratet geblieben und leben in Barmen.
In der Reihe der Kinder eminer Großeltern folgt nun mein Vater Heinrich Ehrhardt, der am 28. Februar 1825 in Mülheim geboren wurde und am 8. Mai 1910 in Wilmersdorf gestorben ist. Meine Mutter ist Ferdinande geborene Koch aus Erfurt, geboren am 12. Mai 1829, gestorben am 17. April 1913 in Düsseldorf. Da ich in dem Folgenden das Leben meiner Eltern und Geschwister eingehend behandeln werde, so begnüge ich mich an dieser Stelle mit dieser kurzen Angabe.
Das jüngste Kind meiner Großeltern war eine Tochter, Friederike Ehrhardt. Verheiratet war sie mit dem Postsekretär Leineweber aus Wullen bei Annen in Westfalen, der, als er verlobt war, das Unglück hatte, im Dienst überfahren zu werden und ein Bein zu verlieren. Diese Tante starb im Jahre 1917 in Essen. Ihre Kinder sind: Jakobine Leineweber. Ihr Mann war der Lackierermeister Krüner. Sie lebt als Witwe in Bochum.
Gustav Leinweber. Er ist verheiratet und lebt als Bahnbeamter in Essen.
Johanne Leineweber, verheiratet mit dem Gastwirt Plotz in Essen. Elisabeth Leineweber, in Essen verheiratet. Ihr Mann, Gehrt, ist Beamter.
Die Ehen dieser Verwandten sind mit Kindern gesegnet.
Weniger als von dem Leben des Großvaters Ehrhardt weiß ich von dem Leben des Großvaters Koch, des Vaters meiner Mutter, zu berichten. Das hat in erster Linie seinen Grund in der weiten Entferung der Stadt Erfurt, in der dieser Großvater lebte. In zweiter Linie kommt in Betracht, daß er schon im Jahre 1864 gestorben ist, zu einer Zeit, wo ich erst 9 Jahre alt war. Meine Eltern haben mehr als vierzig Jahre auf der Zeche Heinrich Gustav bei Werne gewohnt. Einem Dorf, das etwa 2 Kilometer vom Bahnhof Langendreer entfernt ist. Dieser Bahnhof liegt an der im Jahre 1862 gebauten Bahnstrecke Dortmund Duisburg, die auch Steele berührt, den langjährigen Wohnsitz meines Großvaters Ehrhardt. Diese Stadt war also für uns von jenem Jahre ab bequemer zu erreichen als Erfurt.
Des Großvaters Koch erinnere ich mich nur von einem Besuch, den er, es war im Jahre 1858, vielleicht auch 1859, meinen Eltern auf der Zeche Heinrich Gustav machte. Sein Bild steht mir aber nur undeutlich vor Augen. Ich erinnere mich, daß er morgens an mein Bett trat, mich freundlich anlächelte und ebenso mit mir sprach.
Mein Großvater Koch wurde als der einzige Sohn eines Fleischermeisters im Jahre 1795 in Erfurt geboren. Auch er erlernte das Fleischerhandwerk. In seiner Jugend, so erzählte mich meine Mutter, hat er dem französischen Kaiser Napoleon zu Ehren, als dieser in Erfurt sich aufhielt, im Hirschgarten vor dem Regierungsgebäude den Schefflertanz (Tanz der Böttcher) mit aufgeführt. Eine Nichte des Großvaters heiratete, als die Franzosen Erfurt besetzt hielten, einen französischen Hauptmann namens Ducrot. Die jungen Eheleute zogen im Jahre 1812 mit nach Russland und sollen bei dem Übergange über die Beresina den Tod gefunden haben.
Der Bruder der Frau Ducrot war ein lustiger Vogel, von dem meine Mutter viel erzählte. Er trug den schönen Namen „Vetter Töffel“.
Als im Jahre 1813 der Krieg gegen die französischen Unterdrücker ausbrach, stellte sich mein Großvater zum Dienste mit der Waffe. Die Weihe der ins Feld ziehenden Söhne der Stadt fand in der Predigerkirsche statt. Der Großvater hat in der Elbarmee gestanden, die Schlacht an der Katzbach und viele andere Schlachten und Gefechte mitgemacht. Er war auch unter den Truppen, die in Parin einzogen. Meine Mutter erzählte, er habe im Felde auch oft als Fleischer Dienst tun müssen. In seinem Zimmer in Erfurt habe er viele Darstellungen von Schlachten gehabt, und mit Vorliebe habe er Kriegslieder gesungen und mit den Fingern Märsche getrommelt. Ich besitze aus seinem Nachlasse noch ein kleines eingerahmtes Bildchen, das ich auf die Einnahme von Paris bezieht. Oft habe ihr Vater, so erzählte mir meine Mutter, von den Märchen und den unsäglichen Strapazen der Elbarmee, von Blüscher und Wellington, am meisten aber vom Einzuge in Parin erzählt. Sehr oft habe sie ihn singen hören:
In Paris ist eine Bombe geplatzt,
Himmeldonnerwetter, sind sie ausgekratzt.
Immer langsam voran, immer langsam voran,
daß Preußenland auch nachkommen kann.
Das ist wohl eine Strophe nach Art des Liedes vom österreichischen Landsturm, das wir Knaben vor dem Jahre 1870 oft gesungen haben. Ferner ein Gedichtlein auf die Geburt des Sohnes Napoleons, des Königs vom Rom:
Viktoria Viktoria!
Das heil der Welt, ein Prinz ist da.
Und ist es auch nicht Gottes Sohn,
so ist´s doch ein Napoleon.
Dann ein Spottvers auf den französischen Kaiser nach seinem Fall:
Napoleon ist nicht mehr stolz,
Er handelt nun mit Schwefelholz.
Er ruft die Straßen auf und ab:
Ihr Leutchen, kauft mir Schwefelholz ab, ja Schwefelholz ab.
Nach dem Krieg marschierte das Regiment nach Berlin. Dort wurde der Großvater entlassen. In völlig abgerissener Kleidung wanderte er nach Erfurt. An einem Nachmittag kam er zum Stadttor. Weil er es aber nicht über sich gewann, in seinem schadhaften Anzug sich in den Straß0en sehen zu lassen, so wartete er, bis völlige Dunkelheit eingetreten war. So kam er in das Haus seiner Eltern. Diesen musste er sich zu erkennen geben, denn weil sie viele Monate nichts von ihm gehört hatten, so waren sie der Meinung, ich Sohn sei gefallen. Bald nach seiner Rückkehr suchte meinen Großvater eine schwere Krankheit heim. Nach glücklicher Genesung widmete er sich wieder seinem Handwerk. Darauf heiratete er die Jungfrau Magdalene Ludwig, die Tochter des Schulzen in Groß-Vargula bei Erfurt und wurde ein angesehener Bürger. Daß er in der Stadt etwas galt, beweist seine Ernennung zu verschiedenen Ämtern. Da war zunächst das Amt des Born- und Wächterhauptmanns. Galt es, einen Nachtwächter zu wählen, dann mußte der das Amt begehrende Kandidat vor jedem der Hauptleute eine Probe im Singen ablegen. Wer bei diesem edlen Wettstreit am lautesten und schönsten gesungen hatte und die meisten Stimmen auf sein Haupt vereinigte, wurde ehrbarer Nachtwächter der alten Stadt Erfurt. Ein solcher Angestellter mußte damals die Stunden der Nacht auf den Straßen singend ansagen. Die Hauptleute hatten das Recht, zum Lohn für ihre Mühe die Früchte von Nußbäumen zu ernten, die der Stadt gehörten. Die Ernte und die Verteilung der Nüsse gestaltete sich zu einem kleinen Volksfest. Die geernteten Nüsse wurden in annähernd gleich große Haufen geteilt, entsprechend der Zahl der Born- und Wächterhauptleute. Diese mußten den Haufen bei der Verteilung den Rücken zuwenden, und nun entschied ein Mann aus dem Volk, wem die einzelnen Haufen zufallen sollten. So erhielt ein jeder Hauptmann einen Haufen Nüsse. An einer langen Tafel wurden dann die Hauptleute, vermutlich mit ihren Frauen, mit Brötchen, Butter, Käse und Bier bewirtet. Es lässt sich wohl denken, daß diese Veranstaltungen meiner Mutter fest im Gedächtnis haften geblieben sind, vornehmlich wohl der Nüsse wegen, die dem Großvater dabei zufielen.
Im Revolutionsjahr 1848 wurde mein Großvater zum Hauptmann der Bürgerwehr gewählt. Als an dem Tage, wo es besonders toll herging, und die Gemüter sich arg erhitzt hatten, die Bürgerwehrleute sich anschickten, auf das Militär zu schießen, gelang es ihm, diese wahnsinnige Vorhaben mit Strenge zu unterdrücken. Ihm ist es zu verdanken, daß es an dem Tage nicht zu Blutvergießen kam. Noch besitze ich die schwarz-rot-goldene Schärpe, die er an jenem tollen Jahr als Bürgerwehrhauptmann getragen hat.
Als Fleischermeister lieferte er im Jahre 1848 das Fleisch für die Verproviantierung der Festung Erfurt. Auch hatte er lange die Lieferung für eins der in der Stadt stehenden Regimenter, das er, der alte Soldat, oft ins Manöver begleitete.
Meine Großeltern besaßen in Erfurt ein Haus. Als es im Jahre 1847 abbrannte, verloren sie viele Möbel und Feldfrüchte. Meine Mutter erzählte, einer ihrer Brüder sei einmal in die hinter dem Hause vorbeifließende Gera gefallen. Da habe ihr eine ihrer älteren Schwestern ihn an den Haaren ergriffen und gerettet, und weil nur dieser Sohn wie weiland Moses aus dem Wasser gezogen sei, so habe man ihn fortan in der Familie „Moses“ genannt.
Der Großvater betrieb in seinem Hause auch ein Ladengeschäft. Was er grade nicht im Laden, sondern in einem der angrenzenden Zimmer, dann pflegten ihn die Kunden laut zu rufen: Meister Koch! Lebet hoch! Antwortete dann der Großvater und eilte schnell zur Bedienung herbei. Ja, in jenen weit entlegenen Zeiten ging es gemütlicher zu als heut zu Tage.
Aus dem Nachlasse des Großvaters besitze ich noch eine handfeste, dincke Spindeluhr, die er im Feldzuge getragen hat. Er war ein stattlicher Mann, hatte blondes Haar und blaue Augen und trug keinen Bart. Im Jahre 1864 erlag er einem Schlaganfall und wurde mit militärischen Ehren begraben.
Meine Großmutter Magdalene Koch geborene Ludwig stammt aus dem ansehnlichen Dorfe Groß-Vargula bei Erfurt. Ihr Vater war ein Landwirt, den der Großvater wohl beim Einkauf von Schlachtvieh kennen gelernt hatte. Als das Dorf ein neues Oberhaupt haben mußte, wurde er vom Felde geholt und geprüft und nach bestandenem Examen zum Schultzen gewählt. Im Kriege 1819 hatte Groß-Vargula von durchziehenden Russen viel zu leiden, denn diese Kerle stahlen schon damals wie die Raben. Um wenigstens ihre Röcke und Kleider zu retten, zog die besorgte Schwester meiner Großmutter eiligst ihren gesamten Besitz an diesen Kleidungsstücken an. Als nun die Russen plünderungslustig in das Dorf kamen und auch in das Haus des Schultzen eindrangen, wollte sie Reißaus nehmen, blieb aber in der wohl etwas schmalen Türöffnung stecken.
Mehrmals war die Großmutter Koch bei uns, als wir auf der Zeche Heinrich Gustav wohnten. In jener Zeit lebte sie in Erfurt nicht mehr in ihrem Hause, sondern im sogenannten reichen Spittel, einem Erfurter Altenheim. Dort bewohnte sie ein kleines Stübchen und genoß die Gesellschaft vieler Altersgenossinnen. Als ich in meiner Studienzeit sie einmal in Erfurt besuchte, ging ich mit ihr aus. Da sah ich, daß sie in der Stadt sehr bekannt war. Viele Leute grüßten sie und sprachen mit ihr. Als wir zur großen Domtreppe am Markt kamen, setzte sie sich ermüdet auf die unterste Stufe und zeigte mich vorübergehenden, ihr bekannten Personen mit den Worten: „Mein Enkel.“ Dabei wies sie auf mich, der neben ihr stand. Für Naturgenuß schwärmte sie nicht besonders. Als sie einmal bei uns zum Besuch weilte, forderte ich sie auf, mit uns in die Werner Mark, einem Wald in unserer Nähe, zu gehen. Da sagte sie: „ Ach nein, ich habe die Bäume ja alle schon einmal gesehen.“
Sie war untersetzt, hatte dunkles Haar und schwarze, feurige Augen. In ihren letzten Jahr-zehnten war sie sehr stark geworden. Im Jahre 1879 ist sie gestorben. Kinder der Großeltern Koch sind:
Christine Koch, verheiratet mit dem Fleischermeister Kittel in Erfurt. Das Ehepaar hatte drei Kinder:
Heinrich Kittel, Fleischermeister in Erfurt, verheiratet. Er ist im Kriege von 1870 zum Krüppel geschossen worden und längst gestorben.
Minna Kittel, in Erfurt verheiratet.
Marie Kittel, ebenso.
Beide Schwestern waren längere Zeit im Hause meiner Eltern.
Der älteste Sohn der Großeltern Koch war Fritz Koch. Fleischermeister in Erfurt, verheiratet. Er hat meine Eltern einmal besucht, als sie auf der Zeche wohnten. Mit ihm machte ich eine schöne Wanderung nach Steele. Er besuchte damals seinen Schwager Firtz Wundsch, Beamten auf der Zeche Bonifazius bei Steele. Er hatte keine Kinder.
Es folge nun eine Tochter Henriette Koch, verheiratet mit dem soeben genannten Wundsch, einem Jugendfreunde meines Vaters. Sie starb als junge Frau in Dortmund. Ihr Mann, Sohn eines Lehrers in dem Dorfe Hinsel bei Überruhr, war hier auf Erden ein unruhiger Gast, der es nie lange an einem Orte und an einer Stelle aushielt. Er wurde jedoch so unstät erst nach dem Tode seiner Frau, die nach Bildern sehr stattlich und schön gewesen ist. Das Ehepaar hatte zwei Töchter:
Alma Wunsch, die sich verheiratete, aber bald starb, und
Hermine Wunsch, die noch in Essen lebt und verheiratet ist. Ihr Mann, Gieseler, hat Stellung als Beamter.
Der zweite Sohn der Großeltern [Koch] war Johannes Koch, von uns Onkel Hanne genannt. Dieser hat nie gut getan und ist das Schmerzenskind seiner Eltern gewesen. Zweimal erschien er auf seinen Streifzügen bei meinen Eltern, das erste Mal, als sie noch in Harpen, das andere Mal, als sie auf der Zeche wohnten, viele Jahre später. Meine Eltern nahmen ihn auf, pflegten und kleideten ihn, und dann wanderte er weiter. Er ist längst verschollen.
Die dritte Tochter der Großeltern war Ferdinande Koch, von den Angehörigen Nanni genannt, meine Mutter, geboren am 12. Mai 1829 in Erfurt und gestorben am 17. April 1913 in Düsseldorf, in ihrem vierundachtzigsten Lebensjahre. Von ihr werde ich in dem Folgenden mehr erzählen.
Meine Großeltern Koch hatte eine Tochter, die schon in ihrem sechzehnten Jahre starb. Die jüngste Tochter war Lina Koch. Sie vermählte sich mit dem Buchhalter Michael in Erfurt und wohnte zunächst in dieser Stadt, dann aber in Jena, wo ich sie einmal besuchte, als ich in Berlin studierte. Das Ehepaar hatte drei Söhne und eine Tochter:
Heinrich Michael. Er lebte verheiratet, aber kinderlos in Rossleben an der Unstrut als Bücher-revisor. Mit ihm stehe ich in brieflicher Verbindung.
Adolf Michael, verheiratet, ist Kaufmann.
Fritz Michael. Er war in seiner Jugend ein etwas unstäter Geselle, hielt sich auch einmal längere Zeit im Hause meiner Eltern auf. Jetzt wohnt er irgendwo in Amerika und hat ein gut gehendes Automobilgeschäft.
Minna Michael. Sie starb unverheiratet.
So habe ich zusammengetragen, was von dem Leben meiner Großeltern bekannt geworden ist, was ich selbst mit ihnen erlebt, oder von meinen Eltern und deren Schwestern erfahren habe. Wenn nun auch meine Mitteilungen gewiß nicht reichhaltig zu nennen sind, so wird sich doch aus ihnen der Leser von diesen Gestalten als längst vergangener Zeit im Geiste ein Bild formen können. Von ihren Nachkommen habe ich gesagt, was mir mitteilenswert erschien. Nun will ich zunächst aus dem Leben meiner Eltern hier das überliefert, was mir von ihren Erzählungen erinnerlich ist, und zwar von ihrer Geburt an bis zu der Zeit, wo ich, als ihr erstes Kind, das Licht dieser zum Teil recht schönen, zum Teil aber auch recht häßlichen und besserungsbedürftigen Welt erblickte.
Die Eltern
In diese Welt kam mein Vater als der zweite Sohn seiner Eltern am 25. Februar 1825. Er sagte mir einmal: „Meinen Geburtstag kannst Du leicht behalten, wenn Du Dir merkst, wie er in Ziffern geschrieben wird, nämlich 25.2.25.“ Das Haus, in dem er geboren wurde, stand, wie ich schon berichtet habe, in Mülheim an der Ruhr, an der Straße Delle, nahe dem die Straße überspannenden malerischen Mauerbogen westlich von der Petrikirche. Mein Gro߬vater war damals im Begriff, einen wichtigen Schritt zu tun, sich vom Modellschreiner zum Sachverständigen in Maschinenangelegenheiten zu entwickeln. Er war, wie ich schon geschrieben habe, bei der heute noch bestehenden Friedrich-Wilhelmshütte in Mülheim beschäftigt und stellte in deren Auftrage bald hier, bald dort im Lande Dampfmaschinen auf, die in dieser Fabrik angefertigt waren. Auf der Zeche Gewalt nicht weit von Überruhr gegenüber der Stadt Steele verlebte mein Vater seine Knabenjahre. Wie oft hat er uns von der Zeche Gewalt und immer wieder von Gewalt erzählt. Seine Eltern wohnten in einem niedrigen kleinen Hause bei der Zeche. Diese liegt auf einem Höhenzuge, von dem sich eine Aussicht auf Steele und in das Tal der blauen Ruhr bietet.
Als Säugling war mein Vater ein sehr schwächliches Kind. Seine Mutter beschloß, mit ihm nach Duisburg zu wandern, um dort einen Arzt zu Rate zu ziehen. Unterwegs hielt sie in ihrem väterlichen Hause in Speldorf Rast. Da begrüßten sie ihre Freundinnen, und eine von ihnen war so freundlich, ihr zu sagen, dieses elende Kind werde sie nicht lebend nach Duisburg bringen.
In sehr jugendlichen Jahren kam mein Vater einmal in den Stall eines Bauern in dem Dorfe Hinsel, wo eine Sau einige Tage vorher Junge geworfen hatte. Der Knabe bezeugte eine so lebhafte Freude an den Schweinesäuglingen, daß ihm der Bauer eines der Kleinen schenkte. Mit diesem eilte er hocherfreut nach Hause. Seine Mutter war etwas verwundert, denn junge Hunde, Katzen und Karnickel waren wohl damals wie noch heute Geschenkgegenstände, aber ein junges Schwein als Gabe und Spielzeug für ein kleines Kind, das war doch noch nicht da gewesen. Sie gestattete aber, daß das Tier blieb. Es trank in seiner Jugend Milch aus einem Holzschuh, wuchs und gedieh nach Wunsch und Schweineart und wurde ein stattliches Hausschwein, das, gemästet und zum Weihnachtsfest geschlachtet, zum Dank für treue Pflege und Futter die Familie meines Großvaters reichlich mit Würsten, Schinken, Speck und anderen Kostbarkeiten, die so ein Schwein zu vergeben hat, versorgte.
Vor dem kleinen Wohnhause auf Gewalt stand ein kolossaler Baum. In einer Nacht kam ein furchtbares Gewitter, in dessen Verlauf sich ein Krachen hören ließ und die Erde bebte. Der Sturm hatte den Baum umgeworfen, aber so, daß das Haus verschont blieb.
Als kleiner Knabe ging mein Vater einmal an der Hand seiner Mutter über Land. Es war Abend und dunkel. Da fiel ein Meteor vom Himmel und tauchte die Landschaft plötzlich in grelles Licht. Mutter und Sohn sind vor Schreck fast in die Knie gesunken.
Die Schule besuchte mein Vater in dem benachbarten Dorfe Heinsel. Der Lehrer hieß Wundsch. Von ihm ist schon die Rede gewesen, und ich werde auf ihn noch zurückkommen.
Wenn die Familie abends nach Hause kam und Licht und Feuer gemacht werden sollte, dann ereignete es sich wohl, daß die Mutter klagte: „O Herr O Herr, nu heff wi ken Tunner.“ Man machte damals Feuer, indem man mit Stahl und Stein Funken schlug. Die Funkten mußten auf Zunder fallen, der das Feuer aufnahm. Man vermehrte die kleine Glut durch Blasen und entzündete an ihr einen Schwefelfaden. Mit diesem konnte man die Flamme auf Stroh und Holz übertragen, auch die Lampe anzünden.
Auf die Zeche Gewalt kam zuweilen ein Mann, der schadhaft gewordene Dampfkessel flickte und darum der „Kettelläpper“ genannt wurde (weil er Lappen von Eisenblech auf Kessel setzte). Das war der alte Berninghaus. Er kam auf einem Esel geritten, an dessen Flanken die langen Beine des Reiters bis fast zum Boden herabhingen. Im Hause meines Großvaters genoß er Gastfreundschaft und Unterkunft für die Nacht. Weil er viel erzählte, war er ein immer willkommener Gast. Aber er hatte eine Eigenschaft, die meiner Großmutter durchaus mißfiel, er stach ihr nämlich viel zu tief in die teure Butter. Mein Vater erzählte, wenn der Gast die Butter zu dick auf das Brot strich, dann habe seine Mutter gerufen: „Berninghus, de Botter kost’t fief Groschen!“ Dieser alte Kettelläpper ist der Stammvater der Familie Berninghaus in Duisburg, die eine große Schiffswerft und Dampfkesselfabrik ihr Eigen nennt.
In der Nähe von Gewalt hatte sich im Gehölz ein fast gelähmter Weber zwischen vier Bäumen ein Häuschen gebaut, in dem er wohnte. Darin stand auch sein Webstuhl. Diesen betrieb er durch ein schweres Gewicht, das mehrmals am Tage aufgezogen wurde.
Mein Vater war als Knabe mit seinem Bruder oft in Speldorf, im Hause seines Onkels Schmalhaus. Da wohnte auch ein Verwandter meiner Großmutter, der in den nahe liegenden großen Wäldern den Vogelfang betrieb. Dieser nahm die Knaben oft mit in den Wald, aber da gab es manchen Nasenstüber, weil sie sich nicht mäuschenstill verhalten konnten. Der Vogelfänger hatte in seiner Wohnung viele Vögel, denen brachte er das Singen mit einem Instrument bei, das wie eine Drehorgel gedreht wurde und Vogelstimmen ähnliche Töne von sich gab.
Auch in Elberfeld wohnte ein Verwandter meiner Großmutter. Zu ihm gingen mein Vater und sein Bruder oft in den Ferien. Auf einer solchen Wanderung sahen sie zum ersten Mal staunend eine Eisenbahn und einen fahrenden Zug mit einer dampfenden Lokomotive.
Militärdienst im preußisch-dänischen Krieg
Als mein Vater konfirmiert war und die Schule verlassen hatte, sollte er beschäftigt werden, um Geld zu verdienen, oder um die allerersten Anfangsgründe des technischen Berufs, dem er zuneigte, kennen zu lernen. Er begann mit Aschesieben auf der Zeche Gewalt. Mit Recht kann man also von ihm sagen, er habe von der Pike auf gelernt. Später besuchte er die Bergschule in Essen, darauf die in Bochum. Er machte das Markscheideexamen, dann aber widmete er sich dem Studium des Maschinenbaues. Seine erste Anstellung fand er in Bochum bei dem Bauinspektor Dieck, wo er sich auch mit Hochbau beschäftigt.
Als er in das militärdienstpflichtige Alter gekommen war, wurde er eingezogen. Von Essen marschierte er mit einem kleinen Häuflein Kameraden unter der Führung eines Unteroffiziers über Warburg nach Erfurt, wo er in da dort liegende Pionierbataillon eingereiht wurde. Unterwegs lag er einmal bei einer armen Weberfamilie im Quartier, bei der mittags gekochte Kartoffelschalen aufgetragen wurden. Da war am Tisch auch ein schwachsinniger Großvater, der immer fragte: „Wat eten wi vom Dage, wat eten wi morgen?“
In Erfurt wurde damals auf dem Wilhelmsplatz beim Dom exerziert. Mein Vater hat noch mit einer alten Steinschlossflinte, die wohl im siebenjährigen Krieg ihren letzten Schuß getan hatte, Übungen und Gewehrgriffe gemacht. In seiner Kompagnie stand auch ein Einjähriger [mit Namen] Becker, der beim Marschieren nicht richtig mit dem Armen schlenkern konnte und dadurch die schönsten Paraden verdarb. Vergeblich mühten sich die Unteroffiziere beim Nachexerzieren ab, besagtem Becker durch Beispiel und Fluchen das richtige Schlenkern beizubringen. Ich glaube, Becker hat’s nie gelernt, denn als ich in den achtziger Jahren in Schleswig, wo er Regierungs- und Baurat war, mit ihm bekannt wurde, schlenkerte er beim Gehen immer noch anders mit den Armen als gewöhnliche Leute.
In Erfurt erlebte mein Vater die Unruhen der Revolution vom Jahre 1848.
Im Jahre darauf marschierte ein Teil des Pionierbataillons nach Schleswig-Holstein zur Teilnahme am Kriege gegen Dänemark. Mit der Bahn wurde die Kompagnie, bei der mein Vater stand, nach Rendsburg befördert. Dann mußte nach Norden marschiert werden. Zwischen Rendsburg und Schleswig begegneten der Kompagnie Wagen mit Verwundeten aus dem Gefecht bei Eckernförder am 4. April, in dem die dänische Fregatte Gefion im Kampfe mit schleswig-holsteinischen und nassauischen Batterien die Flagge streichen und sich ergeben mußte, und das dänische Linienschiff Christian der Achte in die Luft folg. Da wurde den jungen Soldaten der Ernst des Krieges vor die Augen gestellt. Als die Kompagnie nach Schleswig gekommen war und auf dem Marktplatze stand, fiel mein Vater um, von dem ungewohnten Marsch erschöpft. Man brachte ihn zur Erholung in einen Bäckerladen. In demselben Hause, neben dem Laden, habe ich eine Zeit lang gewohnt, als ich in Schleswig am Dom baute.
Am nächsten Tag zog die Kompagnie weiter nach Norden. Da begegneten ihr auf der Landstraße nach Flensburg bestellte Bauernwagen, mit denen nun die Soldaten weiter befördert wurden. Das Marschieren war damals im preußischen Heere, wie man sieht, nicht recht beliebt. Weiter ging es nach Flensburg und dann zur Halbinsel Sundewitt, bis zu dem später so berühmt gewordenen Dorfe Düppel an der Höhe gegenüber der von den Dänen besetzt gehaltenen Insel Alsen. In Düppel wurde die Kompagnie für einige Zeit einquartiert. Sie warf in der Nähe Erdwerke auf, die ersten Keime der späteren Düppeler Schanzen, die preußische Truppen am 18. April 1864 im Sturm genommen haben. Im Jahre 1849 wurde da Kriegshandwerk gemütlicher getrieben als später. Mein Vater erzählte mir, die Pioniere hätten im Quartier allerlei Unfug getrieben, um die Langeweile der Schanzarbeiten zu unterbrechen. Diese gingen fast ohne Störung durch den Feind vor sich. Wohl kamen von den Batterien auf Alsen ab und zu Granaten geflogen, sie erreichten aber die Arbeitsstätte nicht, denn die Dänen schossen damals noch aus glatten Geschützrohren.
Bei einem Spaziergang sah mein Vater eines Tages, daß ein Pionier aus dem Keller eines Bauernhauses einen großen runden Käse stahl und damit das Weite suchte. Mein Vater schaute in den Keller und sah, daß da noch mehr schöne Käse lagen. Er kroch hinein, holte sich auch einen Käse heraus und zog damit fürbaß, um ihn bei der nächsten Gelegenheit für das Wohl des Vaterlandes zu verwenden. Das sahen ein paar Husaren, die nun urplötzlich auch großen Appetit auf Käse spürten und meinem Vater seine Beute abzujagen versuchten. Dieser flüchtete aber in ein Roggenfeld, den Käse, der ihn am Laufen hinderte, hoch haltend. Er rannte, als ginge es um sein Leben, aber die leichtfüßigen Verfolgen erreichten ihn. Als er nun, um den Käse notgedrungen mit ihnen zu teilen, mit in ihr Quartier ging, traf er dort völlig unerwartet einen Schulkameraden aus Hinsel, dem Dorfe bei Gewalt. Nun wurde der Käse geteilt und das Wiedersehen durch ein kleines Gelage gefeiert. In dieser lustigen Gesellschaft verweilte mein Vater so lange, daß er sich um mehrere Stunden verspätete. Der Lohn für die Urlaubsüberschreitung angesichts des Feindes war – ein paar Stunden Strafwache.
Ein Pionier namens Bock hatte sich irgendetwas zu Schulden kommen lassen und war dafür in einem Hause des Dorfes hinter Schloß und Riegel gesetzt worden. Jedesmal, wenn sie an seinem Kerker vorbeizog, meckerte die ganze Kompagnie. Der eingesperrte Bock schäumte vor Wut hinter den eisernen Stäben, aber je mehr er tobte, desto mehr wurde gemeckert.
Mein Vater war in Düppel bei einem Holzschuhmacher einquartiert. Er bewog diesen Mann, allerlei kleine Genußmittel, derer der Soldat bedarf, anzuschaffen und wieder zu verkaufen, in erster Linie Kaffee und Tabak. Mein Vater half beim Verkauf, und alsbald kam ein schwunghafter Kramhandel in Gang. Bei dieser Geschichte fehlte, wie so oft im Leben, auch das weibliche Element nicht. In diesem Falle stellte es sich in Gestalt einer lieblichen Tochter dar. Mein Vater wurde während der Monate, wo die Kompagnie in Düppel lag und an den Schanzen arbeitete, ein so guter Freund der Familie, daß viele Tränen flossen, als zum Weitermarsch aufgebrochen werden mußte. Der Sohn, ein Knabe, begleitete die Pioniere eine Strecke Weges und trug meinem Vater das Gewehr, und auch die Tochter wanderte noch lange nebenher. Vorher hatte sie meinem Vater noch von einem Traum in der letzten Nacht erzählt. Sie hatte geträumt, mein Vater sei von einer Kugel getroffen und gefallen. Dann kehrte sie nach Hause zurück, und nach den Erfahrungen meines eigenen Lebens darf ich wohl vermuten, daß auch bei dieser Trennung einige Tränen geflossen sind.
Viele Jahre darnach, es war zur Zeit meines ersten Aufenthaltes in Schleswig, besuchte mich mein Vater. Wir machten von Schleswig einen Ausflug nach Kappeln, Schleimünde, Kiel, Flensburg und Düppel, und im Düppeler Wirtshaus erkundigte sich mein Vater nach dem Schicksal der Holzschuhmacherfamilie. Da erfuhren wir, sie sei schon vor langer Zeit nach Flensburg gezogen.
Die Kompagnie marschierte nach Jütland bis zur Stadt Aarhus. Damals kam meinem Vater ein ausziehbares Fernrohr, ein Geschenk seines Vaters, wohl zu Statten. Ich habe es geerbt und besitze es noch. Von Jütland kehrte die Kompagnie nach Erfurt zurück. Sie marschierte am Grabe Theodor Körners bei Wöbbelin in Mecklenburg vorbei. Von dem Tage seiner Rückkehr an arbeitete mein Vater viel als Zeichner für den Hauptmann. Vier volle Jahre hat dienen müssen.
Während seiner Dienstzeit besuchte mein Vater einmal seine Eltern zu Weihnachtszeit. In schneidender Kälte mußte er viele Stunden in einem Eisenbahnwagen fahren, der oben offen war. Ich habe diese Wagen noch auf der Köln-Mindener Bahn gesehen. Der obere Teil war ein mit einer dichten Decke versehenes Gestell, dessen Öffnungen mit Vorhängen verschlossen werden konnten.
Wurde auf Gewalt geschlachtet, dann sandte die gute Mutter ihrem Sohn im Briefe wohl eine Scheibe Wurst als Kostprobe. Diese Scheibe hatte natürlich das Briefpaper völlig durchfettet. Es sind aber auch Pakete mit der Post von der Zeche Gewalt nach Erfurt gegangen.
Als mein Vater vor seinem Abmarsch nach Erfurt von seinem Lehrer Wundsch in Hinsel Abschied nahm, empfahl ihm dieser er möchte in Erfurt einen seiner Verwandten, den Fleischermeister Koch, aufsuchen und ihm einen schönen Gruß bestellen. Mein Vater tat das auch und verkehrte von da ab im Hause Kochs. In dieser Zeit kam auch einmal Fritz, der Sohn des Lehrers Wundsch in Hinsel und Schulkamerad meines Vaters, nach Erfurt und verlobte sich mit der zweiten Tochter Kochs Henriette, genannt Jettchen, und mein Vater erwählte die dritte Tochter Kochs Ferdinande, in der Familie Nanni genannt, zur Lebensgefährtin. Sie wurde meine Mutter.
Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst trat mein Vater in den preußischen Staatsdienst. Er wurde Maschinenwerkmeister zu Staßfurth im Regierungsbezirk Magdeburg, am dortigen Steinsalzbergwerk und an anderen Bergwerken. Aus den Erzählungen meiens Vaters erinnere ich mich der Ortsnamen Lödderburg und Altenweddingen. Da hatte er, wie sein Vater und später sein Sohn, lange Wege von Werk zu Werk zurückzulegen, sein Vater in der Umgebung von Steele, und ich, als ich in Lothringen Stellung hatte.
Nach Staßfurth holte mein Vater seine junge, ihm in Erfurt angetraute Frau. In einem kleinen Abschiedsgruß in der Zeitung, den ich noch bewahre, dem Produkt eines Gelegenheits¬dichters, steht der Bergmannsgruß „Glückauf!“ Hierzu will ich bemerken, daß mein Vater, weil er stets an Gruben tätig gewesen ist, sich immer als Bergmann gefühlt, daher auch im Verkehr mit Angestellten der Zechen und mit Untergebenen den schönen und klangvollen Gruß Glückauf! gebraucht hat. Als ich einst mit ihm einfuhr, wir beide im Grubenanzug und mit der Wetterlampe, da grüßten die uns Begegnenden Glückauf!, und auch ich mußte so erwidern.
Die Mutter
In der an Kirchen und an Türmen reichen Stadt Erfurt wurde meine Mutter am 12. Mai des Jahres 1829 geboren. Die Eltern Koch nahmen ihre Kinder oft mit aufs Land, denn der Vater hatte Wagen und Pferde, die er seines Berufes wegen halten mußte. Besonders oft ging die Fahrt zum Heimatdorf meiner Großmutter, nach Groß-Vargula. Meine Mutter kam als junges Mädchen auch nach Gotha, Weimar, Koburg und zu den Drei Gleichen. Als Mädchen hat sie auch den Schäfflertanz erlernt, den ich schon erwähnt habe. Achtzehn Jahre war sie alt, da machte sie ihre erste größere Reise. Es ging nach Bremen, wo in dem noch heute stehenden alten Hause Balgebrückstraße 2 ein Bruder ihrer Mutter wohnte. Sie fuhr mit der Eisenbahn nach Diepholz, mußte aber von da bis Bremen die Post benutzen. Als sie Braut war, hat sie auch einmal meine Großeltern Ehrhardt besucht.
Daß der Brautstand meiner Mutter so lange dauerte, gefiel einem alten Freunde meines Großvaters Koch gar nicht. Er beschloß, die Sache in Fluß zu bringen, ging zum Pastor und besorgte das kirchliche Aufgebot ohne Wissen der zunächst und am meisten Beteiligten. Meine Mutter saß einmal an einem Sonntage in Erfurt in der Kirche. Am Schluß der Predigt verlas der Pastor die Aufgebote. Zum Tode sei sie erschrocken, so erzählte sie, als sie plötzlich den Namen meines Vaters und ihren Namen gehört habe. Aber die Sache war nun in Gang gebracht und nahm den allen Beteiligten erwünschten Verlauf.
EEs Geburt in Staßfurth
Nachdem ich nun meinen Vorfahren die ihnen gebührenden Ehren erwiesen habe, komme ich zu den Freuden und Kümmernissen, den Glücksfällen und Leiden, den Irrungen und Fährnissen meines eigenen Lebens.
Als erstes Kind meiner Eltern kam ich in Staßfurth auf die Welt, am 6. September des Jahres 1855. Nicht an allen Orten und allen Menschen war dieses Jahr ein Jahr des Friedens, denn damals war in Europa Krieg und erscholl Kriegsgeschrei. Im Osten schlugen die Völker aufeinander; die Engländer, Franzosen, Türken und Piemontesen zerzausten dem russischen Bären tüchtig das Fell. Zwei Tage war ich alt, da fiel die Feste Sewastopol in der Krim.
Meine Eltern wohnten damals in Staßfurth in einem Hause, das an der Bode lag, aber jetzt von der Erde verschwunden ist. Faßt also dereinst nach meinem Tode der Staßfurther Magistrat den Entschluß, zum Andenken an mich eine Tafel aus Stein oder gar aus Bronce an meinem Geburtshaus anzubringen, dann wird er in eine höllische Verlegenheit kommen. Erblickte ich das Licht der Welt auch in der Salzstadt an der Bode, so kann ich sie doch nicht meine Heimat nennen. Als solche sehe ich vielmehr das Land Westfalen an, in dem ich von der frühesten Jugend an meine Knaben- und Jünglingsjahre verlebt habe, zu dem ich auch später immer gern wieder zurückgekehrt bin, wo das Haus meiner Eltern stand, und meine Eltern mehr als die Hälfte ihres Lebens verbracht haben. Wie es kam, daß wir nach Westfalen verschlagen wurden, hier feste Füße faßten und Wurzeln schlugen, das sei in dem Folgenden erzählt, umständlich, wie es bei alten Leuten Brauch ist.
Umsiedlung der Familie nach Westfalen
In dem kleinen Dorfe Werne bei Langendreer im Regierungsbezirk Arnsberg saßen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts auf der von den Vätern geerbten Scholle etwa zwölf Bauern. In diesem Dorfe war zuweilen der Doktor der Medizin Müser aus Dortmund als Arzt tätig. Müser war ein unternehmender Mann, der aus einer wenig begüterten alt-Dortmunder Familie stammte. Er beschloß, in Dortmund eine Bergwerks-Aktiengesellschaft zu gründen und bei Werne eine Zeche anzulegen. Die Gesellschaft bildete sich alsbald, und bald ging auch der Ankauf von Grundstücken zur Anlage der Zeche vor sich. Ein geschickter Bohrmeister, Köster aus Harpen, hatte für die Gesellschaft gebohrt und war fündig geworden, das heißt, er hatte Kohle in abbauwürdigen Flözen gefunden. So entstand aus kleinen Anfängen die Harpener Bergbau Aktiengesellschaft, später wohl auch kurz Harpener Verein genannt, ein Unternehmen, das jetzt so groß geworden ist. Das Dorf Harpen, nach dem die Gründer ihre Vereinigung nannten, liegt einige Kilometer nördlich von Werne.
Die damals gegründete Zeche wurde „Heinrich Gustav“ genannt. Sie bestand aus zwei Schächten, dem Schacht Jakob und dem Schacht Arnold, der allgemein auch Wetter¬schacht genannt wurde. Direktor der Zeche wurde der Bergmeister von der Beck, und Obersteiger ein Mann namens Pottkämper. Um einen Maschinenkundigen zu gewinnen, wandte sich Herr Dr. Müser an das Bergamt in Bochum, und dieses bezeichnete ihm meinen Vater als eine geeignete Persönlichkeit. So trat mein Vater im Jahre 1856 in den Dienst der Harpener Gesellschaft.
Meine Eltern nahmen ihre Wohnung in dem Dorfe Harpen, in einem Hause, das dem Lehrer Hiddemann gehörte.
Harpen ist ein sehr altes westfälisches Dorf mit einer gewölbten romanischen Kirche. Hier wurden bald der Pastor Rosenbaum und der Lehrer Hiddemann mit ihren Frauen Freunde meiner Eltern. Der Ort liegt etwa 6 Kilometer von der Stadt Bochum, eben so weit von Witten und weiter noch von Dortmund. Meiner Mutter, der Thüringerin, die in einer volkreichen Stadt aufgewachsen war, wird es im Anfang nicht so ganz leicht gewesen sein, sich in die engen Verhältnisse eines von der übrigen Welt fast abgeschlossenen Dorfes zu finden und sich im Kreise einer echt westfälischen Bevölkerung, die treu und starr an ihren alten Sitten festhielt, wohl zu fühlen. Viele Lebensmittel und die meisten Gebrauchsgegenstände mußten von Bochum geholt werden, denn in Harpen gab es damals, wie in anderen Dörfern der Gegend, nur einen kleinen Kolonialwarenladen, einen sogenannten Winkel. Den Inhaber eines solches Landes bezeichnete man früher mit dem fürchterlichen Wort „Winkelier“.
Das Fleisch brachte meiner Mutter Jahrelang ein in Kastrop wohnender jüdischer Fleischer, der mit der Schiebekarre über Land zog. Frische Brötchen zum Morgenkaffee gab es nicht. Butter und Milch verkauften die Bauern, wenn man ihr Wohlwollen erworben hatte, zuweilen auch wohl ein Schwarzbrot oder einen Stuten. Die Verkehrsverhältnisse lagen damals völlig im Argen. Harpen war fast isoliert zu nennen, besonders im Winter, wo der Zustand der Wege aller Beschreibung spottete. Besser im Stande war die Harpen schneidende Landstraße, die den Ort mit Bochum, Lütgendortmund und Dortmund verband.
Zuweilen spielte meiner Mutter auch ihre Erfurter Mundart einen Schabernack. Als sie einmal dem Mädchen den Auftrag gab, ein Bochum Gurken zu kaufen, brachte diese Korke mit, und ein anderes Mal erhielt sie Gurken anstatt der gewünschten Korke.
So fremd meiner Mutter zunächst Mundart und Wesen der Westfalen erscheinen mußten, gelang es ihr doch, in die neuen Verhältnisse sich zu finden und in ihnen zu leben. Ein Fest war es für sie immer, wenn sie ihre Schwester in Dortmund, Frau Henriette Wundsch, besuchen konnte. Den weiten Weg nach dieser Stadt mußten die Eltern zu Fuß zurücklegen, wenn sich nicht eine Fahrgelegenheit mit einem Bauernwagen fand. Einmal war meine Mutter eine volle Woche lang bei ihrer Schwester gewesen. Dann ging mein Vater auch nach Dortmund, um sie wieder abzuholen. Kaum war die Begrüßung erfolgt, da sagte meine Mutter: „Jetzt kommst Du schon, mich abzuholen? Und ich habe mich mit Jettchen (so nannte sie ihre Schwester) noch gar nicht ausgesprochen.“
Diese Tante und ihr Mann Fritz Wundsch schlossen in Dortmund enge Freundschaft mit einem in demselben Hause wohnenden Drechslermeister F. Blume und seiner Frau, zwei biederen, ehrbaren Menschen. Mit ihnen wurden auch meine Eltern befreundet. In späteren Jahren, als meine Tante längst nicht mehr unter den Lebenden weilte, nahm mich meine Mutter oft mit nach Dortmund. Gingen wir dann zu diesen alten Freunden, dann brachte Frau Blume Kaffee in Tassen von übermenschlicher Größe und sagte zu meiner Mutter: „Gleich komme ich, und dann setze ich mich bei Sie.“
In Harpen traf meine Eltern ein Unglück. Ihr Haus brannte ab, sie fanden aber bald eine andere Unterkunft.
In demselben Dorfe wurde im Jahre 1857 meine Schwester Nanni als das zweite Kinde meiner Eltern geboren.
Noch vor dem Jahre 1859 ließ die Harpener Gesellschaft auf dem Schacht Jakob ein größeres Beamtenhaus errichten, in dem meine Eltern eine Wohnung bezogen. In jener Zeit wurde auch die Zeche Prinz von Preußen zwischen Langendreer und Bochum von der Gesellschaft gebaut oder angekauft.
Meine früheste Erinnerung knüpft sich an die Stadt Erfurt. Meine Mutter besuchte einst ihre Eltern und nahm mich mit. Ich weiß, daß mich eine weibliche Person auf den Arm nahm, damit ich sie besser sehen könnte. Als ich nach vielen Jahren meinen Vetter Kittel in Erfurt besuchte und in dessen Wohnzimmer trat, wußte ich sofort, daß jene Szene in demselben Raum sich abgespielt hatte. Ich erinnere mich auch, daß ich bei der Rückkehr [nach Harpen] das neue Haus auf der Zeche gesehen habe. In diesem Hause kam im Jahre 1859 mein Bruder Heinrich zu Welt.
In demselben Jahre wurde mein Vater zum Militärdienst eingezogen, als Preußen mobil machte. Er marschierte aus, kam aber nur bis Schwerte und kehrte dann nach Hause zurück.
Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt, wir wohnten schon auf der Zeche, da nahm mich mein Vater einmal mit nach Steele zu den Großeltern. Ich erinnere mich aber nur des Hinweges. Da standen wir an der Pforte eines Friedhofes. Mein Vater zeigte mir ein Grabdenkmal mit einem Obelisken, und ich glaubte, in dem Obelisken stecke der Tote.
Herrliche Erinnerungen haften an dem Hause meiner Großeltern. Es lag völlig frei, etwas außerhalb der Stadt Steele. Aus dem Fenstern der hinteren Zimmer hatte man einen schönen Blick auf das Ruhrtal, auf bewaldete Höhen und auf einen von Wald entblößten Hügelrücken mit der Zeche Gewalt, auf der die Großeltern so lange gewohnt hatten. Ein Paradies war für mich der große Garten am Hause, in dem zwei Teiche lagen, und in dem der Großvater Obst, Gemüse und Beeren jeder Art zog. Die südliche Giebelwand des Hauses war ganz mit echtem Wein bewachsen. In seinem dichten Blattwerk versammelten sich abends die Sperlinge der ganzen Umgebung und erzählten sich lärmend die Erlebnisse des Tages. Von den Beeren im Garten durfte ich nach Herzenslust essen. Und wie schön war für mich der Verkehr mit den Großeltern, die an allem, was mit bewegte, Teil nahmen.
Allerlei merkwürdige Dinge gab es im Hause der Großeltern zu sehen. Glaskugeln mit farbigen Blumengebilden im Innern, wie sie in jener Zeit auf allen Kommoden standen. Vergrößerungsgläser, durch die man winzige Muscheln und Schneckenhäuser betrachten konnte, das kunstvoll gearbeitete Modell einer liegenden Dampfmaschine aus Eisen und ein ganz sonderbares Ding, wie es mir seitdem nie wieder vor die Augen gekommen ist, eine Vorrichtung ähnlich einer Büche, aus der Kinde mit Erbsen schießen, oder einer Spritze. Damit konnte man sich viele feine Nadelstiche in die Haut beibringen lassen. Man glaubte, das rege die Hauttätigkeit an und nannte das Ding deshalb Lebenswecker. Es ist schade, daß dieses teuflische Instrument nicht in meinen Besitz übergegangen ist. Es hätte jeder Folter-kammer einverleibt werden können.
Ich erinnere mich, daß ich als Kind einmal photographiert worden bin. Der Photograph sagte mir, ich sollte in das Glas seines Kastens sehen, in dem Kasten hätte er einen ganz merkwürdigen Vogel. So fesselte er meine Aufmerksamkeit. Dieses leider sehr be¬schädigte Bild besitze ich noch heute.
Als meine Eltern noch in Harpen wohnten, suchte mein Vater zuweilen abendliche Erholung und Zerstreuung im Verkehr mit Freunden und Bekannten aus Lütgendortmund, wo es ein größeres Gasthaus gab, das von Westhoff. Als wir schon auf der Zeche wohnten, gingen wir, meine Eltern, Herr und Frau Pottkämper und ich, einmal abends von Lütgendortmund nach Hause. Da betrachteten wir den Donatischen Kometen, der 1859 am Himmel stand. Ich erinnere mich dieser Erscheinung noch ganz deutlich.
Eines Tages kam die Kunde, der neue König Wilhelm wolle die Rheinlande und Westfalen besuchen. Es war der erste Besuch nach seiner Thronbesteigung. In Gelsenkirchen, berichtete die Zeitung, werde der Zug des Königs längere Zeit halten. Meine Eltern wollten den König sehen und wanderten mit mir nach Gelsenkirchen. Wir kamen zum Bahnhof und in ein entsetzliches Gedränge begeisterter Untertanen. Meine Mutter suchte mit mir nach Art aller Mütter möglichst weit nach vorn zu dringen und schob mich in die aufgestellte Musik¬kapelle. Der Zug kam, die Musiker machten einen Höllenlärm, der mir recht nahe in die Ohren dröhnte, und das Volk rief Hurrah und Hoch. Der König in Mütze und Mantel stieg aus und schritt im Gespräch mit einigen Herren vor dem Zuge auf und ab. Als dieser wieder abfuhr, erschien auch die Königin Augusta am Fenster des Bahnwagens und winkte mit dem Taschentuch.
Im Jahre 1861 begann ich meine täglichen Gänge zur Schule im Dorfe Werne. Diese Schule war ein stattlicher Bau, aus dessen Dach ein kleines Türmlein mit einer Glocke wuchs, ein Mittelding zwischen Schulhaus und Kapelle. An der einen Seite des breiten Hausflures lag, fünf oder sechs Stufen über dem Fußboden, das Schulzimmer, neben diesem ein Raum mit einer von der Schule aus zugänglichen Kanzel und mit einem Harmonium. In dieser Kapelle hielt sonntags einer der beiden in Lütgendortmund tätigen Pastoren zuweilen Gottesdienst ab, bis Werne einen eigenen Pastor anstellte. Auf der anderen Seite des Flures lag zur ebenen Erde die Wohnung des Lehrers und daneben die eines Handwerkers, eines Mannes, der Kapelle und Schule in Ordnung zu halten und zu reinigen, der zu läuten und andere Dienste zu verrichten hatte. Das Haus bot Gelegenheit zu einem kleinen landwirtschaftlichen Betriebe, denn früher hatten auch wohl in Werne die Lehrer sich etwas mit Ackerbau beschäftigt. In der Schule waren die Bänke in drei Gruppen aufgestellt, für die größeren Knaben, die größeren Mädchen und eine gemischte Abteilung, in der die kleinen und die kleinsten untergebracht wurden. Ausgestattet war die Schulstube mit einer Wandtafel, einem gewaltigen eisernen Ofen, den der Lehrer selbst bediente und einem großen Katheder, der aber nie benutzt wurde. Ein einziges Bild, das des Königs Wilhelm, bildete den Schmuck der Wände. Die reichlichen Fenster in unserem Rücken und zur Linken hatten kleine Scheiben von grünlichem Glase. Erhebend war es für uns, durch die Fenster zur Linken in die Apfelbäume des Lehrers zu blicken, deren Zweige die Scheiben berührten und im Winde daran scheuerten. Besonders im Herbst, wenn die Äpfel reif wurden, erfreute uns der Ausblick, denn wir hatten die Hoffnung, daß ein Teil der Früchte uns zur Beute fiel.
Im Hause meiner Eltern gab es in jener Zeit Lampen, die mit gereinigtem Rüböl gespeist wurden. Als das Petroleum aufkam, kaufte mein Vater eine einfache Lampe, goß auf diese aus de Stadt geholtes Petroleum und zündete sie an. Wir Alle bewunderten die neue Erfindung und freuten uns der hellen Flamme. Meine Mutter ließ aber beim Hantieren in Küche und Keller nicht von ihrer altmodischen, oft qualmenden, offenen Rüböllampe. Damals kannte man auch nur Schwefelhölzer, die schwedischen Streichhölzer waren noch nicht erfunden. Wollte sich ein Mann eine Pfeife anzünden, dann schlug er bedachtsam Feuer mit Stahl und Stein. Der so hervorgebrachte Funke fiel auf ein Stück Schwamm, und dieses wurde glimmend auf den Tabak gedrückt. Gas brannten meine Eltern erst kurz vor dem Jahre 1870, als auf einem der Schächte eine winzige Gasfabrik in Betrieb genommen wurde, in der man Petroleumrückstände verarbeitete.
Ich kehre nun wieder zur Schule in Werne zurück und will meines lieben alten Lehrers und späteren väterlichen Freundes Wilhelm Nölle gedenken. Dieser stammte aus Bochum und war Zögling des Seminars in Soest. Lange Zeit war er der einzige Lehrer in Werne und alleiniger Herrscher auf dem Gebiete der Schule, bis die Vermehrung der Bevölkerung die Gemeinde zwang, einen zweiten Lehrer zu berufen, der in der Kapelle Schule hielt. Der Lehrer Nölle spielte in Werne eine große Rolle. Er war oft Berater in vielen Angelegenheiten, denen die Schule fern stand. Wenn die Bauern ein Schwein geschlachtet hatten, dann sandten sie ihm einen Korb voll Fleisch. Und in Werne bestand damals insofern noch eine besondere Verbindung zwischen den Lehrersleuten und der Einwohnerschaft, als Herr Nölle vielen Kindern Klavierunterricht erteilte, und seine Frau Mienchen, eine ehemalige Putzmacherin aus Krefeld, für die Frauen und Töchter der Bauern und anderer Dorfinsassen Hüte baute und garnierte. Meine Mutter als Städterin hat es allerdings nie über sich gewonnen, die Hülfe der Lehrersfrau in diesem wichtigen Zweige der Bekleidungskunst in Anspruch zu nehmen. Bochum war, als wir in Harpen und dann auf der Zeche wohnten, die Stadt, in der meine Eltern die meisten Einkäufe machten, überhaupt der Ort, zu dem sie die meisten Beziehungen hatten. Die Stadt Witten kam erst in zweiter Linie in Betracht. Für das Dorf Werne und unsere Gegend spielte Witten deshalb eine große Rolle, weil die Bauern meist dorthin die verkäuflichen Erträgnisse der Landwirtschaft auf den Markt brachten. Wichtig für uns war auch die große Wittener Kirmeß im September, zu der die mobile Bevölkerung der Umgebung zusammenströmte.
Die auf den Schächten Jakob und Arnold geförderten Steinkohlen, die nicht in die Kesselhäuser wanderten, wurden in den ersten Jahren entweder von der Landbevölkerung und von kleineren industriellen Anlagen aller Art gekauft, oder auf große, mit Pferden bespannte Wagen geladen und in die Städte gebracht. Zur Ruhr, der großen, etwa 6 Kilometer von uns entfernten Verkehrsader, gingen die Kohlen nicht. Das währte bis zum Anfange der sechziger Jahre. Da wurde die Strecke der bergisch-märkischen Bahn von Dortmund über Langendreer, Bochum nach Duisburg gebaut, und gleichzeitig legte die Harpener Gesellschaft eine schmalspurige Schleppbahn an, die den Bahnhof Langendreer mit den beiden Schächten Arnold und Jakob verband. Die kleinen Wagen der Bahn wurden von Pferden gezogen. Ich erinnere mich noch, daß am Tage ihrer Eröffnung die mit Kohlen gefüllten Wagen festlich mit Fähnchen geschmückt waren. So hatte die Zeche den Anschluß an das Eisenbahnnetz gefunden. Nun vergrößerte sich auch der Absatz und wuchs die Zahl der Arbeiter. Bald kamen Fremde, meist Hessen und Nassauer, um auf der Zeche Arbeit zu suchen und zu nehmen. Mein Vater baute auf der Werner Heide die ersten Arbeiterwohnungen, lange, niedrige Reihenhäuser mit kleinen Gärtchen. In jener Zeit legten auch nicht weit vom Bahnhof Langendreer Private die ersten Koksöfen nach einem jetzt längst veralteten System an. Diese alten Öfen sind aber vor einer Reihe von Jahren wieder abgebrochen worden.
Hier ist der Ort, etwas über die landschaftliche Lage des Dorfes Werne zu sagen.
Der Ardey ist ein Höhenzug an der Grenze zwischen den Bergen des Sauerlandes und der norddeutschen Ebene. Auf seiner nördlichen Abdachung, de auch wohl Hellweg, plattdeutsch „Hielff“ genannt wird, liegt das Dorf Werne in etwas hügeliger, abwechselungsreicher Gegend. Das Land ist fruchtbar und seit langer Zeit dem Ackerbau und der Viehzucht dienstbar gemacht. Am oberen, östlichen Ende des Dorfes entsprangen Quellen, die früher einen größeren Teich speisten, den Lakendiek, so genannt, weil an seinen Ufern die im Dorfe gewebten leinenen Laken gebleicht wurden. Von ihm floß das Wasser durch das Dorf, eine Anzahl kleinerer Teiche speisend. Die Bauernhöfe, in meiner Knabenzeit etwa ein Dutzend, lagen nach westfälischer Art zerstreut, umgeben von Obst- und anderen Bäumen. Bei jedem Hof stand eine Scheune. Auch kleinere Häuser gab es, in denen meist Tagelöhner wohnten. Jetzt hat das Dorf sein Aussehen gründlich geändert, denn es ist dort viel gebaut worden. Aber in meiner Schulzeit hatte es noch überall dörflichen Charakter.
Zur Gemeinde gehörten auch mehrere in der Feldmark liegende Bauernhöfe. Ein Weg führte von Werne zum Hellweg, der uralten Heerstraße von Bochum nach Dortmund. An diesem zuerst genannten Wege lag der Schacht Arnold, den wir Wetterschacht nannten, und da, wo er auf den Hellweg stößt, der Schacht Jakob, wo meine Eltern so lange gewohnt haben. Der Hellweg berührte den Vorgarten unseres Hauses. Von hier bot sich dem Auge nach Südosten, Süden und Südwesten ein Blick auf ein langsam ansteigendes, schönes Bergland, dessen Mitte der Ardey einnahm. Man sah bis zu den fernen blauen Höhen bei Elberfeld. In einer geringen Entfernung nördlich von unserer Zeche senkte sich das Gelände zu einem Wiesental mit einem Bach, der bei Herbede in die Ruhr fällt. Dieser bildete die Grenze zwischen den Gemeinden Werne und Harpen. Das letztere Dorf liegt auf der nördlichen Schwachen Welle des westfälischen Berglandes, das hier allmählich in die weiten Ebenen des Münsterlandes übergeht. Kleine Haine und ein größerer Wald, die Werner Mark genannt, unterbrachen in der Gemeinde Werne die Getreidefelder. In dieser Gegend gab es in meinen Knabenjahren nur wenige rauchende Schornsteine von Zechen und Koksöfen.
Im Dorfe Werne wurde damals noch gesponnen, und auf der Werner Heide wohnten zwei Weber, deren Webstühle ich in Gang gesehen habe. Jetzt hat die Gegend ein ganz anderes Aussehen. Die Natur ist an vielen Stellen völlig zurückgedrängt, viele Schornsteine ragen in die Luft, und ganze Häuserreihen sind aus der Erde gewachsen, wo ehemals der Pflug seine Furchen zog, die Ähre reifte, in den Wäldern das Eichhorn kletterte, und in Hainen und Hecken der Vogel sein Nest baute.
Die Schulzeit in Werne
Meine Eltern ließen mir und meinen Geschwistern völlige Freiheit. Was anderswo die Knaben ergötzt, habe auch ich getrieben. Aber ich will den Leser mit den Schilderungen meines Treibens und meiner Spiele nicht langweilen. Solche Darstellungen finden sich ja in fast allen Lebensbeschreibungen, und es wird überall dasselbe erzählt. Nur weniges, unserer Gegend Eigentümliche will ich hervorheben und das mitteilen, was einen besonderen Eindruck bei mir hinterlassen hat.
Unser Lehrer Nölle schwang das Bakel mit jugendlicher Kraft. Glaubte er uns züchtigen zu müssen, dann klemmte er unseren Kopf zwischen seine Knie und schlug mit einem Stöckchen, das wir selbst aus der Hecke holen mußten, aber, bevor wir es in seine Hände legten, mit feinen, seine Haltbarkeit nicht gerade fördernden Einschnitten versahen. Diese bewirkten es, daß gewöhnlich schon beim ersten Schlag ein Stück davonflog, und damit war die Wucht des Hiebes erheblich gemindert. Auch mir wurde nach Untaten bisweilen das Fell ausgeklopft. Aber ich fand bald ein vortreffliches Mittel, mir die Schläge vom Leibe zu halten. Wurde ich nämlich ebenso freundlich wie dringlich aufgefordert, die Bank zu verlassen, um meine Tracht entgegen zu nehmen, dann schrie ich sofort so laut, daß Frau Nölle, die ja nebenan wohnte, es hören mußte. Sobald ich also mein Hilfssignal ertönen ließ, kam sie, die ja meine Stimme bald kennen lernte, eiligst herbei, steckte den Kopf durch die Tür und beschwichtigte den Zorn und die Kampflust ihres Mannes. Damit tat sie auch wirklich nicht zu viel, denn das Lehrerpaar war doch mit meinen Eltern befreundet, ich tat oft Botendienste im Verkehr der Lehrersfrau mit meiner Mutter, und eine Hand wäscht ja die andere.
Ich erinnere mich auch vaterländischer Feiern in der Schule. Nahte der 22. März, der Geburtstag des Königs, dann zogen in die Werner Mark Mädchen und Knaben und holten Blätter der Stechpalme, in Westfalen Hülsenkrabbel genannt, und fertigten damit Kränze an, das Bild des Königs und die kahlen Wände des Schulzimmers nach althergebrachter und unumstößlich feststehender Art damit zu schmücken. Das Andenken an den Befreiungs¬krieg wurde am 17. März 1863 gefeiert. Dieses Datum des 17. März trägt der bekannte „Aufruf an mein Volk“, der die Preußen zum Kampf gegen die wälschen Bedrücker und Blutsauger rief. Der wichtigste Augenblick für mich war, als das Oberhaupt der Gemeinde, ein wohlbeleibter Bauer, gewichtigen Schritts und mit knarrenden Stiefelsohlen in das Schulzimmer trat. Worin die Feier bestand, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, daß wir vaterländische Lieder singen mußten.
Bei meinem in Jahre 1859 geborenen Bruder zeigte sich schon in früher Jugend eine geringe Rückgratverkrümmung. Meine Mutter reist mit ihm nach Köln zu dem berühmten Arzt Dr. Fischer, um Hülfe zu suchen. Mein Bruder mußte lange in einem gepolsterten Gestell liegen und einige Jahre ein kleines Gestell tragen.
Unterhaltung gab es im Dorfe nicht viel. In die Schule aber kam allerlei fahrendes Volk, Männer und weibliche Personen, die uns Gegenstände und ihre Künste zeigten, ein Mann mit einem Tellurium, ein Bauchredner, Weiber mit abgerichteten Papageien und Hunden. Ferner erinnere ich mich, in einer Schenke auf der Wermer Heide einmal ein Puppentheater gesehen zu haben. Als die Prinzessin im weißen, flimmernden Gewande erschien, rissen die erschienenen Dorftöchter und Viehmägde Augen und Mund auf, und ging ein Ah und Oh durch die Reihen.
Herr Nölle zeigte uns in seinem Garten auch das Pfropfen und Okulieren, Künste, die aber wohl keinen seiner Schüler zur Nachahmung angespornt haben.
Eines Tages teilte er uns mit, wir müßten nun das Turnen lernen. Ich hatte keine Ahnung, was das nun wieder war. Bald standen, von des Tischlers und Schuldieners Brinkmann Hand angefertigt und eingepflanzt, auf dem Schulhof ein Reck und ein Barren. In dem letzteren habe ich später das überflüssigste und nichtswürdigste aller Turngeräte kennen gelernt, das ich wie die Pest haßte. Also das Turnen ging los. Herr Nölle hütete sich wohl, uns die Übungen zu zeigen, denn er hatte gewiß in seinem ganzen Leben Übungen an diesen verwünschten Geräten noch nicht gemacht. Einmal turnten wir nachmittags in der Sonnenglut auf dem Schulhofe. Da kam ein Bekannter Nölles aus Witten herzu und sprach mit ihm. Nölle half gerade einem Bauernjungen, der mit seinen ungefügen Gliedern einen Aufschwung versuchte und mit den Beinen hilflos in der Luft herumstach. Die Mutter des Jungen hatte wohl beim Annähen der Hosenknöpfe die Tücken eines Aufschwunges nicht bedacht. Kurzum, bei der Anstrengung platzten die Knöpfe ab, und es kam nun, da der Junge es für richtig gehalten hatte, bei der Hitze sein Hemd nicht anzuziehen, ein Körperteil zum Vorschein, den man nur bei besonders drangvollen Gelegenheiten und auch dann nur an heimlichen oder einsamen Orten zu entblößen pflegt. Da sagte der fremde Herr schmunzelnd: „Na ja, das kann einem Mann passieren, der Frau und Kinder hat.“
Das große Einmaleins brauchten wir in der Schule nicht zu lernen. Dieser Unfug war damals in Volksschulen noch nicht eingeführt.
Viele Jahre später, ich studierte schon, wurde in den Schulunterricht auch die Körperlehre eingeführt. Da bat mich mein alter Lehrer, ihm die Geheimnisse des Würfels, der Pyramide, des Parallelpipedons u.s.w. zu enthüllen. Ich versuchte es, glaube aber nicht, daß meine Lehrtätigkeit viele Früchte getragen hat. Jedenfalls habe ich von Herrn Nölle mehr gelernt, als er von mir.
Zwischen Weihnachten und Neujahr mußten wir in der Schule erscheinen, um unseren Eltern nach einer gedruckten Vorlage Neujahrsbriefe zu schreiben, die Wünsche zum neuen Jahr enthielten und überflossen von Beteuerungen unserer Liebe und Ergebenheit und dem Versprechen, immer recht brav zu sein. Diese Briefe überreichten wir unseren Eltern feierlich am Neujahresmorgen. Stolz waren wir, wenn das Schriftstück ganz frei von Tinten¬spritzern und Fettflecken war. Wir schrieben mit Stahlfedern. Unser Lehrer zeigte uns aber auch, wie man aus einer Gänsefeder mit einem scharfen Messer ein Schreibinstrument schneiden kann. Für gewöhnlich schrieben und rechneten wir auf gerahmten Tafeln von Schiefer, geschwärztem Blech oder Pappe, die mit einer schwarzen Masse überzogen war. Zum Schreiben und Rechnen dienten mit schönem Papier überzogene Griffel.
Welch wundervolle Einrichtung warst Du, und welch herrliche Erinnerungen knüpfen sich an Dich, Du schöne Abendschule in Werne! Dein gedenke ich in Wehmut und Dank noch jetzt in meinen alten Tagen! Urplötzlich fiel es nämlich dem Schulrat an der hohen Regierung in Arnsberg ein, es sei nicht genug mit dem Unterricht am Tage, es müssen jetzt auch die Abendstunden dazu verwandt werden. Zuerst waren wir sehr unzufrieden mit dieser Neuerung. Die Mütter allerdings begrüßten sie mit Freuden, wurden sie uns doch dadurch auch abends für einige Zeit los. Uns aber wurde die Abendschule eine reich sprudelnde Quelle der reinsten Freuden. Die Beleuchtung geschah mit Kerzen, die vor uns auf die Platten der Schulbänke gesteckt wurden. Diese Kerzen dienten uns zu einer ergötzlichen Unterhaltung. Von unseren Freunden, den Bergleuten, wussten wir uns Pulver zu verschaffen, das sie in der Grube zum Sprengen verwandten. Aus diesem suchten wir die größten, oft erbsen- und bohnengroßen Körner aus, bohrten vor Beginn des Unterrichts in den oberen Teil der Kerze, dicht unter dem Docht, ein Loch, steckten ein Pulverkorn hinein und verschmierten die Stelle wieder fein säuberlich mit flüssig gemachtem Stearin. Die Kerzen wurden im Unterricht angezündet, und nun harten wir der Dinge, die da kommen mußten. Und die Dinge kamen. Die Flamme brannte herab, erreichte das Pulverkorn, und dieses flog plötzlich wie eine Rakete zischend durch die Luft. Traf es einen Kameraden, dann sprang dieser, ganz nach Verabredung, brüllend auf. Das gab dann eine wundervolle Unterbrechung der langweiligen Schulstunde. Herr Nölle war bestürzt und völlig ratlos über die Tücke der explodierenden Kerzen. Nie ist er darauf gekommen, daß wir die Schuld trügen. Er pflegte sich auch oft in unsere niedrigen Schulbänke zu klemmen und mit seinen langen Oberschenkel unter die Tischbretter zu drücken, bis er einmal am Holz hängen blieb, weil einer von uns so freundlich gewesen war, pechartigen eingedickten Theer mitzubringen und unter das Brett zu kleben.
Schön war es auch, vor der Abendschule getrocknete Eichenwurzeln, die porös sind, zu rauchen. Danach wurde uns aber oft hundeübel.
Sonntags und in den Ferien an jedem Tage gingen wir in das Wiesental zwischen Werne und Harpen. Da waren Wäldchen mit dicken Eichen, schlanken Buchen und Lärchen und neue Anpflanzungen mit jungen Bäumen, ein Ufer mit Gesträuch, darunter kleine Kirschbäume und Haselstauden. Hier gab es Vogelnester und Hasenlager. An einem Wäldchen lag ein klarer, von Quellen gespeister Teich mit Stichlingen und Fröschen. In diesem Tal trat auch das warme Grubenwasser zu Tage, in dem wir gern badeten, obschon es schmutzig war. Im Bache aber gab es Muscheln, Stichlinge und Krebse. Hier, nahe der Zeche, aber der Aufsicht der Eltern doch entzogen, konnten wir uns nach Herzenslust tummeln. Sonntags zogen wir wie gewöhnlich am Nachmittag in das Tal, um den Jungen von Harpen eine Schlacht zu liefern. Sie begann wie die homerischen Kämpfe. Zunächst beschimpften sich die stimmbegabtesten und großmäuligen Führer, meist aus sicherer Entfernung, und dann wurden Steinwürfe gewechselt. Stießen die Harpener vor mit Gebrüll, dann rannten die Werner davon, und machten die Werner einen mutigen Angriff, dann rissen die Harpener aus. So wogte der Kampf hin und her, bis der Abend sich auf das Tal senkte, und wallende Nebel alles einhüllten.
Kam einmal ein Harpener nach Werne, dann besah er Prügel, und fiel es einem Werner ein, sich in Harpen sehen zu lassen, dann wurde ihm das Fell ausgeklopft. Man wagte sich also nur mit den Eltern in das feindliche Dorf. Nur wenn in Harpen Kirmeß war, dann ruhte aller Hader mit Werner, dann hatten die Harpener genug damit zu tun, Meinungsverschieden¬heiten miteinander mit Fäusten, Knüppeln und Schießeisen zum Austrag zu bringen. Harpen war berüchtigt wegen der vielen Raufereien, die sich dort ereigneten. Vor Jahrhunderten soll einmal ein Harpener Pastor bei einer Strafpredigt ausgerufen haben: „Harpen, Harpen, von Dir habe ich schon in Brabant gehört!“
In dem erwähnten Wiesental lag das Harpener Pastorat, in dem der würdige Pastor Rosenbaum wohnte. Oft habe ich ihn besucht, am fleißigsten, wenn die Birnen und Äpfel reif waren. Das Pfarrhaus war wie ein besseres Bauernhaus gebaut.
Die alte Kirche in Harpen habe ich sehr früh mit Teilnahem betrachtet. Sie lag am Eingange des Dorfes. In ihrer unmittelbaren Nähe standen die Schule und das Wohnhaus des Lehrers Hiddemann. Ich freute mich der farbig bemalten Kanzel mit ihren Schnitzereien, von denen mir die geflügelten Engelsköpfe am besten gefielen. Diese Kanzel ist leider bei der Instandsetzung des Innern in den sechziger Jahren als Brennholz verkauft und zerschlagen und durch ein nüchternes Machwerk ersetzt worden. Dasselbe Los sollte auch dem Flügelaltar zu Teil werden. Vor diesem Schicksal hat ihn jedoch der Einspruch des Lehrers Hiddemann bewahrt. Auch eine aus Stein gehauene Anbetung der Könige machte mir viel Freude, ebenso ein Tabernakel im Chor und ein dort aufgedecktes Wandbild: Der weltrichtende Christus auf dem Regenbogen.
Wir gehörten nicht zur Kirchengemeinde Harpen, sondern nach Lütgendortmund. Dort steht eine große nüchterne Saalkirche aus neuerer Zeit. Mir widerstrebte es immer, dort die Gottesdienste zu besuchen. Lieber saß ich in der traulichen Harpener Kirche. An ihr hing mein Herz, und hier genoß ich schöne Stunden kindlicher, mit etwas Grauen und Gruseln gemischter Andacht.
Eine langjährige Freundschaft verband meine Eltern mit dem Lehrer Hiddemann und seiner Frau. Das Wohnhaus des Lehrers stand nahe dem Chore der Kirche und begrenzte mit dieser und der Schule einen Teil des Friedhofes. Auch dieses Haus war, wie die Schule in Werne, auf einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb eingerichtet. Den Lehrer Hiddemann sah ich in seinem Hause fast nur mit der langen Pfeife. Auf einem Eckbrett im Wohnzimmer stand eine Reihe von Pfeifen, und auf dem Tische immer der Fidibusbecher. Alles roch hier nach Tabakrauch. Im Hausflur führten in einem großen Käfig zwei Turteltauben ein gelangweiltes Dasein. Kehrten meine Eltern mit mir abends aus dem Hause zur Zeche zurück, und schritten wir über den Friedhof, den wir zu meinem größten Leidwesen nicht umgehen konnten, dann drückte ich mich immer in die Falten des Kleides meiner Mutter, denn ich hatte eine gewaltige Furcht vor Gräbern und glaubte felsenfest an Spuk und Gespenster. Auf diesem Friedhof befanden sich aus Eichenholz gezimmerte Grabdenkmäler, die genauso aussahen wie halb aus der Erde ragende Särge. Am unheimlichsten war mir zu Mute, wenn der Mond schien, und auf dem Friedhof ein leichter Neben lag, in dem sich allerlei zu bewegen schien.
Der Glaube an Spuk spielte überhaupt in unserer Gegend eine große Rolle. Saßen die Mädchen an lauen Sommerabenden vor den Bauernhäusern, dann sagen sie oft Lieder spukhaften Inhalts. Ich weiß auch noch, daß plötzlich, wie vom Himmel gefallen, das Gerücht aufsprang, es spuke auf der Zeche Urbanus, die nicht weit von unserem Hause lag. Die Bergleute weigerten sich, in die Grube zu fahren. Sogar in den Tagesblättern wurde dieser Spuk eingehend berichtet.
Die beiden Töchter der Lehrersleute, Eugenie und Adele Hiddemann, waren eng mit mir befreundet. Meiner anhänglichen Liebe und Verehrung erfreuten sich ein Walnussbaum und zwei alte Birnbäume mit frühen Sommerbirnen, und auch dem Taubenschlage, in dem sogar Eulen Eier legten und ausbrüteten, widmete ich meine Teilnahme. An gewissen Tagen im Jahr zog Herr Hiddemann aus und sammelte auf den Bauernhöfen Abgaben ein, Schweinsköpfe, Eier, Getreide und sonstige Erträge der Landwirtschaft und Viehzucht. Neben seiner Tätigkeit als Schulmeister versah er das Amt des Organisten und Küsters. An der Orgel vertrat ihn in späeren Jahren seine älteste Tochter Eugenie, deren Fleiß und Fähigkeiten mich stets mit großer Achtung erfüllten. Sie wurde Lehrerin und dann Vorsteherin einer höheren Mädchen-schule zu Bünde in Westfalen. Beide Eltern liegen in Harpen begraben. Eugenie und Adele aber wohnen in Bielefeld. Dort habe ich sie einmal besucht und die alte Freundschaft mit ihnen erneuert. Zwischen uns besteht noch eine briefliche Verbindung.
Als ich anfing die Schule in Werne zu besuchen, war da ein Mann namens Zorn Schuldiener. Sein Nachfolger war der schon genannte Brinkmann, ein Tischler. Der reparierte zuweilen auch Turmuhren, wenn auch nur widerwillig. In Harpen haperte es zuweilen mit der schon altersschwachen Turmuhr. Nachdem besagter Brinkmann an ihr mehrmals seine Künste versucht hatte, versagte sie eines Tages völlig den Dienst. Da bat mich der Lehrer Hiddemann, ich möchte Brinkmann bestellen, die Uhr ginge schon wieder einmal nicht, er solle kommen und sie in Gang bringen. Ich begegnete Brinkmann auf einem Wege in Werne und richtete ihm die Bestellung wörtlich aus. Da zuckte es in Brinkmanns Gesicht wie Wetter¬leuchten. Er ging davon, dann aber, nach einigen Schritten, drehte er sich wieder zu mir um, nahm seine kurze Pfeife aus dem Munde, spuckte aus und sagte unwirsch: „Segg Hiddemann, hä soll …“ Und nun kam die bekannte Aufforderung des Götz von Berlichingen. Ich glaube, ich habe Brinkmanns urwüchsige Aufforderung an Herrn Hiddemann nicht weitergegeben.
Als Lesebuch benutzten wir in der Schule in Werne den preußischen Kinderfreund, und dann mußten wir uns ein viel schöneres Buch anschaffen, den westfälischen Kinderfreund, das wir deshalb so sehr liebten, weil es ein paar Bilder und vortreffliche Schilderungen unserer westfälischen Heimat enthielt.
Damals in den Schulen beliebte Lieder, die wir oft haben singen müssen, waren:
Ich bete an die Macht der Liebe
Laßt mich gehen, Laßt mich gehen, daß ich Jesum möchte sehen
Der beste Freund ist in dem Himmel
Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh
Unseren Eingang segne Gott, unsern Ausgang gleichermaßen
Das letzte Lied ließ uns Herr Nölle immer singen, wenn die Ferien begannen. Wir sangen es mit Inbrunst und viel Geschrei. Kaum waren die letzten Klänge verhallt, dann stürzten wir hinaus auf die Straße und verübten in dem Glück bringenden Gefühl völliger Freiheit im Dorf den tollsten Unfug.
Auch vaterländische Lieder sangen wir viel:
Was blasen die Trompeten? Husaren heraus!
Was ist des Deutschen Vaterland!
In dem wilden Kriegstanze brach die schönste Heldenlanz
Ich bin ein Preuße, kennt Ihr meine Farben?
Heil Dir im Siegerkranz
Ich hab mich ergeben
„Die Wacht am Rhein“ war damals in der Schule noch unbekannt. Natürlich wurden auch Weihnachtslieder und Choräle gesungen.
Weil liebte ich mein altes vertrautes Dorf Werne. Nicht grade der Schule wegen, sondern weil es da so schöne Dinge zu sehen und zu erleben gab, und weil es so vortreffliche Gelegenheit zu Spielen und Streichen bot, und endlich, weil dort im Herbst an den Bäumen süße gelbe Birnen, rotwangige Äpfel und blau angehauchte Pflaumen prangten. Da wurde gedroschen und Flachs gehechelt, wurden Ochsen und Schweine geschlachtet, da sah man in den Ställen Säue mit Ferkeln, wurde Obst geerntet und gedörrt. Wir kannten jeden Obstbaum im Dorf und den Geschmack seiner Früchte und waren den Bauern bei der Obsternte meist sehr unwillkommene Helfer. Genau wußten wir auch, wo der Haus- und Hofhund bissig oder gutmütig war. Im Allgemeinen sahen wir unseren Vorteil darin, die Zuneigung derjenigen Hunde zu erwerben, die einen Hof mit Obstbäumen zu bewachen hatten.
Ein reiches Feld jugendlicher, zum Teil sehr unnützer Betätigung bot uns die Zeche mit ihren vielen Anlagen. Die geheimnisvolle Tiefe der Schächte erfüllte unsere Seele mit Schauern. Vorstellungen von allerlei Spuk dort unten im Dunkeln durchrieselten uns, wenn wir sonntags vor der gähnenden Öffnung der Schächte standen, oder wenn wir sahen, wie die Wasserhebe-maschine starke Ströme schmutzigen Wassers aus der Tiefe holte und ausspie. Unsere Freunde waren die Kesselwärter und die Maschinenwärter, die Schreiner und Schmiede, überhaupt die über Tage arbeitenden Leute.
Oft überzeugten wir uns sonntags von dem Inhalt der Sperlingsnester, ließen Dampf aus Maschinen, warfen im Spiel Fensterscheiben an den Zechenhäusern ein und bauten auf dem Zechenplatz kleine Häuschen. Natürlich hielten wir wie andere Knaben auch Schützenfeste ab und spielten Theater in den von uns erbauten Laubhütten und Bretterbuden oder in den Scheunen der Bauern. Als wir größer wurden, ritten wir die kleinen Grubenpferde, und dabei unternahmen wir oft weite Ausflüge. Die Arbeiter über Tage waren meist Hessen oder Nassauer. Mit ihnen verstanden wir uns vortrefflich. Mit den Ziegelbäckern aus dem Fürstentum Lippe dagegen, die im Frühjahr kamen und den Sommer über in leichten Bretterbuden wohnten, konnten wir uns nie vertragen. Großes Vergnügen machte es mir, auf den Steinhalden Versteinerungen, Pflanzenabdrücke und wie Gold glänzenden Schwefelkies zu sammeln.
Ein Knabe von neun Jahren werde ich gewesen sein, da besuchte uns einmal der Großvater Ehrhardt. Er hatte auf irgendeiner Zeche zu tun gehabt, war in unsere Nähe gelangt und trat unerwartet ein, von uns allen mit Freude empfangen. Abends beim Essen erzählte er, er hatte einen langen Fußweg gemacht und sich dabei die Zeit in merkwürdiger Weise vertrieben. In der rechten Hosentasche trug er eine Anzahl Bohnen. Waren tausend Schritte zurückgelegt, dann nahm er aus dieser Tasche eine Bohne und ließ sie in die linke Tasche gleiten. Am Ziel angelangt, konnte er aus der Anzahl der Bohnen leicht ermitteln, wie viele Schritte er gemacht hatte. Später besuchte uns der Großvater noch einmal, um uns in einem großen Korbe eine Anzahl von ihm eingerahmter kleiner Bilder zu bringen. Als er zum Bahnhof Langendreer zurückkehrte, fuhr er auf der Kohlenschlepperbahn und zwar auf einem Teckel, das ist ein auf Räder gesetztes, aus zwei fest miteinander verbundenen Balken bestehendes Gestell, auf das ein Stuhl gestellt werden konnte. Ich schob den des Gefälles wegen allein laufenden Teckel mit dem Großvater darauf zum Bahnhof Langendreer.
Unsere Zeche, die uns Gelegenheit zu so schönen Spielen und erfreuender Tätigkeit gab, zeigte uns zuweilen auch ein ernsthaftes, so erschreckend Unheil drohendes Gesicht. Oft sahen wir, daß eine auf Rädern ruhende Bahre zum Schacht geschoben wurde, um einen Verwunderten oder Toten abzuholen. Auf der Zeche Neu-Iserlohn, nicht weit von unserer Wohnung, kamen im Jahre 1867 etwa hundert Bergleute an einem Tage durch schlagende Wetter und Nachwanden zu Toden.
Der Schacht Jakob zeichnete sich vor anderen dadurch aus, daß der Abdampf der Förder-maschine in den hohen Kesselschornstein geleitet wurde. So kam an dessen Kopf nicht nur Rauch, sondern von Zeit zu Zeit auch eine weiße Dampfwolke zum Vorschein. Aus meilenweiter Entfernung erkannten wir daran den Schornstein unseres Schachtes.
Das Spielen in der Umgebung unseres Hauses war übrigens nicht immer harmlos. Mein Spielgefährte, der Sohn des Obersteigers Pottkämper, fiel einmal in eine Grube mit frisch gelöschtem, noch heißem Kalk. Er erlitt eine schwere Verbrennung, die eine Verkrüppelung der rechten Hand zur Folge hatte. Mit der Linken lernte er aber vortrefflich Schreiben.
Auf der Zeche wohnte auch ein Maschinenwärter, dessen Frau sich auf das Schröpfen verstand. Dieser mir unheimlichen Tätigkeit habe ich oft zugesehen. Ich wusste, warum den Menschen das zum Leben doch so notwendige, warme rote Blut abgezapft wurde.
Mein Vater hatte die Leitung aller Maschinenanlagen und Bauarbeiten auf den beiden Schächten der Zeche Heinrich Gustav und der etwa eine halbe Stunde Weges von uns entfernt liegenden Zeche Prinz von Preußen. Später kamen dazu die nicht von Prinz gelegene, angekaufte Zeche Karoline und die Zeche Amalie, ein Neubau in der Nähe unseres Schachtes, dicht bei der Werner Mark. Oft habe ich meinen Vater zu den Zechen Prinz, Karoline und Amalie begleitet, denn ich nahm schon früh Anteil an technischen Dingen, und es war so schön, mit ihm zu wandern.
Erholung suchte mein Vater, nachdem die Bahn Dortmund – Duisburg gebaut war, vorzugsweise am Bahnhof Langendreer, wo es gute neue Gasthäuser gab, und ein Haus nach dem anderen gebaut wurde. Wie oft habe ich abends, wenn Gäste zu uns kamen, vom Bahnhof Langendreer in einer großen Wasserflasche Bier holen müssen, denn gutes Flaschenbier gab es damals bei uns noch nicht. Wir gingen zum Bahnhof auf dem Körper der schon genannten Schleppbahn und mußten dann die vielen Gleise vor dem Bahnhof überschreiten. Dieser Weg war gefährlich, besonders abends, und wenn Güterwagen verschoben wurden. Selbstverständlich war er auch verboten. Von Rechts wegen hätten wir, um zum Bahnhof zu gelangen, durch das Dorf Werne gehen müssen. Das Wandern in der Dunkelheit war in jenen Jahren in der Nähe der Zechen nicht leicht, denn damals ließ man noch die Gase aus den Koksöfen durch niedrige Schornsteine ins Freie entweichen, und so kam es, daß aus diesen eine helle Flamme schlug, die weithin das Auge stark blendete.
Als Knabe wollte ich einmal die Großeltern in Steele besuchen. Da verließen mich aber in Bochum plötzlich die Kräfte, sodaß ich umkehren mußte. Meine Mutter steckte mich sofort ins Bett, denn sie erkannte, daß bei mir die Masern ausgebrochen waren. Unser langjähriger Arzt war Herr Dr. Büscher in Lütgendortmund, ein Freund meines Vaters. Später ließ sich auch in Harpen ein Arzt nieder.
Mein Vater bezog ein kleines Gehalt, das nicht mit den Jahren stieg. Aber er hatte eine Wohnung und freien Brand und auch sonst manche Bezüge. Bei besonderen Gelegenheiten erhielt er auch Geldgeschenke von der Harpener Gesellschaft, denn er war ein fleißiger, kenntnisreicher und pflichttreuer Mann, der Tag und Nacht auf dem Posten stand und seiner Sache Herr war. Vor unserem Hause lag ein Gärtchen mit Bäumen und einer Laube. Außerdem aber hatten wir nahe der Zeche einen Garetn, in dem meine Mutter mit Sachkenntnis Gemüse zog. Dorthin ging sie in der guten Jahreszeit an jedem Tage, begleitet von ihrer Katze, die sich dort nützlich machte und Feldmäuse fing. Kartoffelland hatten wir bald hier, bald da. Für uns war es ein Vergnügen, bei der Ernte zu helfen. Nachmittags schickte uns die Mutter einen Korb mit Kaffee, Butterbrot und Reibpfannkuchen ins Feld. Wie hat es uns da geschmeckt!
Des dänischen Krieges von 1864 erinnere ich mich deutlich. Waren doch westfälische Regimenter an den Kämpfen beteiligt. Sehr oft sprach auch mein Vater von den kriegerischen Ereignissen, denn in den Berichten wurden Ortsnamen genannt, die ihm vom Jahre 1849 her geläufig waren. Damals hatten die Dänen nach dem Friedensschluß die von den Preußen bei Düppel gebauten Schanzen herumgedreht und die Linie so ausgebaut, daß sich im Jahre 1864 ein starker Gürtel von Erdwerken von Strand zu Strand über die Düppeler Höhe zog, mit rückwärtigen Verbindungen und einem Brückenkopf gegenüber Sonderburg auf Alsen. Wir Jungen sangen im Jahre 1864 Spottlieder auf Hannemann. So wurde der Däne genannt.
In der Grube hatte mein Vater nur zu tun, wenn es sich um die Beseitigung eines Schadens an den Pumpen oder um den Einbau eines Ersatzteiles handelte. Dann fuhr er ein, im Grubenanzug und mit der Wetterlampe. Ein drolliger Anblick, wenn ich dann einmal am Schacht, einem Trupp Bergleute begegnend, unter den herabhängenden Krempen eines Bergmannshutes das bärtige Gesicht meines Vaters erkannt. Taten die Pumpen nicht ihre Pflicht, mußten sie in Folge irgendeines Scahdens – „Gebräch“ nannte man das in der Bergmannssprache – feiern, dann ersoff die Grube, und konnten die Bergleute nicht einfahren. Ich erinnere mich, daß mein Vater oft nachts geholt wurde. Um ihn gut zu wecken, warfen die an den Pumpen beschäftigten Bergleute mit kleinen Steinen an die Fenster seines Schlafzimmers.
Mein Vater hat in seinem Arbeitszimmer viel gezeichnet. Unter ihm standen Pumpen- und Maschinensteiger, die aber nicht zeichneten und entwarfen. Aber er entwarf nicht nur Maschinen, sondern auch Hochbauten, zunächst für die Schächte, dann aber auch Wohnungen für Arbeiter. Ich sah das alles, und es erregte meine lebhafte Teilnahme, und da ist auch wohl die Lust am Zeichnen und die Neigung zum Hochbau in mir erwachsen. Alsbald begann ich unseren Schacht zu zeichnen, was mir auch trefflich gelang – nach meiner Meinung!
Am ersten Ostertage brannten abends auf den Höhen und auf den Feldern der Niederungen überall Osterfeuer, die mein Vater nie versäumte genau zu zählen. Zum Christfest holten wir mit Erlaubnis des Bauern aus einem kleinen Wäldchen in unserer Nähe einen Tannenbaum, den meine Mutter anputzte. In jedem Jahre sandte mein Staßfurther Pate Ernst Böhme für mich Zuckerwaren in schönen Farben. Mein schönstes und liebstes Geschenk war eine große Arche Noah mit vielen Tieren, die ich nicht müde wurde aufzustellen und in Reihen zu ordnen, bis sie Schwänze und Beine verloren. Den wundervollen Struwelpeter, das schönste Bilderbuch der damaligen Kinderwelt, sah ich zum ersten Mal bei den Kindern des Direktors von der Beck. Aus der Heimat meiner Mutter kam zum Weihnachtsfest in jedem Jahre ein Schittgen, ein mit Zucher bestreuter Kuchen mit Korinten, Rosinen und Mandeln nach Art der Bremer Klaben. Zu Neujahr wurden in allen Häusern mit einem zangenartigen Waffeleisen Neujahrskuchen gebacken, die man, so lange sie noch heiß und weich waren, trompetenartige aufrollte. Sie hielten sich unbegrenzt lange. Die Eisenflächen waren graviert und mit Ornamenten und Inschriften versehen, die auf den Neujahrskuchen im Abdruck erschienen. Ging man um Glück zu wünschen in ein Haus, so erhielt man diese Kuchen als Geschenk. Von ihnen wurden große Körbe voll gebacken. In der Neujahrsnacht knallten überall Schüsse. „Das Neujahr anschießen“ nannte man das. Es war verboten, aber die Schüsse knallten dennoch an allen Ecken und Enden, und an einem der nächsten Tage las man in der Zeitung von den Unglücksfällen, die sich beim Schießen ereignet hatten. Trachten gab es in Werne längst nicht mehr. Viele Männer trugen aber noch blaue leinene Kittel mit vielen kleinen weißen Knöpfen. Bei wenigen alten Männern sah ich noch eine gestrickte Zipfelmütze.
Von Bauernjungen, meinen Schulkameraden in der Werner Schule, lernte ich auch das merkwürdige alte Lied:
Hermann schlo Lärm an
Schlo Pipen, schlo Trümmen
De Kaiser well kommen
Met Hangen un Stangen
Well Hermann aphangen.
Man sagt, es beziehe sich auf Hermann, den Fürsten der Cherusker. Fest hafteten in Werne, wie überall in Westfalen, alte Namen an Örtlichkeiten, und blieben Erinnerungen an längst Vergangenes im Volke lebendig. Nicht weit von dem Hause meiner Eltern lag ein teif geschnittener Hohlweg, der ein „Weinberg“ genanntes Gelände zugänglich machte. Hier hatten, wie auch an anderen Orten Westfalens, einst Reben gestanden. Der Hohlweg mündete in einen kleinen Wald, „Schmiers Büschken“ genannt. Schmier oder Smier bedeutet Schmidt. Einen Bauern dieses Jahres hatte es vor vielen Jahren in Werne gegeben. Nicht weit von diesem Wäldchen lag in dem Wiesental zwischen Werne und Harpen, in dem in jedem Frühling Millionen von duftenden Schlüsselblumen blühten, ehemals das Haus Wiesche, ein adeliges Gut. Eine Bauernfrau aus Harpen erzählte mir einmal, zuletzt hätten in dem Hause zwei alleinstehende alte Damen gewohnte. Im Laufe der Jahre war von diesem Gut kein Stein auf dem anderen geblieben, nur in der Erde steckten noch Grundmauern, die der Besitzer der Wiese in den achtziger Jahren ausheben ließ, vermutlich um die Steine zu gewinnen. Etwa fünf Minuten von dem Orte, wo dieses Haus stand, lag und liegt wohl noch heute die Wiescher Mühle, die einst zum Gut Wiesche gehörte. Lange haftete in Werne an Bauernhäusern der Name des ehemaligen Erbauers oder Besitzers.
Man glaubte in meiner Heimat, daß es an Kreuzwegen nicht recht geheuer sei, besonders da sollte es nächtlich spuken, wo zwei Hohlwege sich schnitten. Solche Örtlichkeiten durchschritt ich als Knabe in der Dunkelheit nur laut pfeifend, um mir den Spuk vom Leibe zu halten. Auch einer neueren Sage erinnere ich mich. Wo die bergisch-märkische Bahn von Langendreer nach Bochum den Hellweg überschreitet, schläft in der Erde ein gewaltiger Riese. Nach Jahrhunderte langem Schlafe erwacht er einmal, reibt sich die Augen und sagt: „Nun will die alte Erde auch schon aus dem Leim gehen, darum hat man wohl die eisernen Bänder darum gelegt.“
In der Bevölkerung brauchte man noch Worte, die sich in den Zeiten der französischen Fremdherrschaft eingebürgert hatten. Diese hatten aber im Munde des Volkes eine wunder-liche Form angenommen.
Gern begleitete ich meine Eltern in die Städte.
Dortmund – Bochum – Witten
In Dortmund wohnte die uns befreundete Familie des Drechslermeisters Blume. In dieser ehemaligen freien Reichsstadt nahmen die alten Kirchen, die Reinoldi-, die Marien-, die Petrikirche und die des ehemaligen Dominikanerklosters, meine Teilnahme in Anspruch, ebenso die Fehmlinde, die in jenen Jahren wohl schon altersschwach, aber doch noch ein stattlicher Baum war. Die kleine Insel, auf der sie stand, umbrandete der Eisenbahn¬verkehr. Der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke, ein Dortmunder, sah sie noch, als sie einsam vor dem Tor stand, und die von den Weiden heimkehrenden Milchmädchen hier vorüberzogen. Das war einmal vor langer Zeit. Im Anfang der sechziger Jahre hat die Eisenbahn dem letzten Rest dieses Idylls grausam und unbarmherzig den Todesstoß versetzt. In Dortmund sah ich bei einem großen Schützenfest auch einen langen Festzug mit einem Musikkorps in friederizianischer Uniform.
Näher als Dortmund lag uns die Stadt Bochum, die wir aus diesem Grunde auch öfter besuchten. Man nannte sie in jener Zeit wohl Kauhbaukem, das ist Kuhbochum, weil ehemals die Bürger viele Kühe hielten, die zur Vöhde auf die Weide getrieben wurden. Man brauchte von der Zeche bis Bochum eine starke Stunde. Es gab mehrere Wege dorthin. Am liebsten ging ich über die Dörfer Hafkenscheid und Altenbochum. In den Nebenstraßen hatte die Stadt noch ein altertümliches Gepräge. Noch stand das Haus, in dem der Doktor Kortum, der Dichter der Jobsiade, gelebt hatte. Die Gussstahlfabrik begann sich zu entwickeln. In Bochum hatten meine Eltern viele Bekannte. Dort wohnte ein Bruder meines Onkels Leineweber, dessen Frau einem flott gehenden Laden vorstand. Hier und in anderen Läden kauften meine Eltern, was in Werne nicht zu haben [war]. Wie froh war ich jedes Mal, wenn mein Vater vom Schacht kam und mich fragte, ob ich mit ihm nach Bochum gehen wollte. Ich vergesse nie, daß ich damals in einer kleinen Schenke, nahe dem Markte in der „Krömelkuhle“ ein prickelndes Getränk kosten dürfte, Selterswasser. In Bochum hatten wir Kinder einen Teil unserer Bildung. Ich genoß dort den ersten Unterricht in Latein, mein Bruder war mehrere Jahre lang Schüler des Gymnasiums, und meine Schwestern besuchten in dieser Stadt die höhere Töchterschule.
Witten besuchten wir meist zur Zeit der großen Kirmeß. Dort war ich zum ersten Mal in einer Menagerie. In einem großen, etwas wackelig aufgestellten Käfig befanden sich viele kleine Affen. Der Käfig fiel um, und es gab ein fürchterliches Gezeter, das den ganzen Tierbestand in Aufregung versetzte.
Auch Lütgendortmund und Harpen hatten alljährlich ihre Kirmeß. Tönten über das Wiesental hinweg von Harpen die Klänge der großen Trommel und der Drehorgeln der Karousselle, dann hielt keine Macht der Erde mich auf der Zeche zurück.
Unterüberschrift?
Mein Vater hatte oft in den umliegenden Orten geschäftlich zu tun, wo Maschinen und Maschinenteile und andere Gegenstände für die Zeche angefertigt wurden. Zuweilen machte er auch weitere Reisen für den Harpener Verein. Das Ruhrtal lag uns nahe. Aus den Fenstern unserer Wohnung sahen wir die den Fluß begleitenden Höhenzüge. Einmal nahm mich mein Vater mit nach Vollmarstein bei Wetter, wo die armseligen Trümmer einer Burg liegen, und mit beiden Eltern war ich auf der Burg Blankenstein. Hier gab es für wenig Geld viel Kaffee, Milch, Butter und Brot in einem Saal des alten Burghauses, in dem auch eine viel angestaunte Ritterrüstung aufgestellt war. Bei der Burg lag der weit bekannte Gethmanesche Garten. Von oben hatte man einen schönen Blick in das Tal der Ruhr.
Auch Hohensyburg, die alte Feste, die schon zu Karls des Großen Zeit eine Rolle spielte, habe ich mit meinem Vater besucht.
Am schönsten aber war es doch in Steele, im Hause der Großeltern, und im Garten, besonders wenn die Beeren reiften. Einmal kam dahin, gerade als ich da war, auch mein Onkel Friedrich aus Mülheim. Er hatte seinen jüngsten Sprössling Leo mitgebracht, einen kleinen Knaben, jünger als ich, der aber zu meiner größten Verwunderung schon einen steifen Hut trug. Als er Onkel durch den Garten schritt, ging sein Söhnlein in einem Abstand von drei Schritten hinter ihm her. Er war schweigsam und sehr brav und wagte nicht, eine Beere oder Blume anzurühren, und ich fühlte, daß zwischen diesem scheuen Sohn und seinem strengen Vater eine Kluft bestand. Da war es zwischen mir und meinem Vater doch ganz anders, viel schöner. Ich ging nicht hinter ihm her, sondern neben ihm und sprach mit ihm, brauchte auch nicht einen steifen Hut zu tragen.
Meine Mutter bereitete damals da Brot selbst. Sie kaufte Getreide, ließ es in der Wiescher Mühle mahlen und siebte das Mehl. So gab es Weißbrot in verschiedener Feinheit. Am liebsten aßen wir das gröbste. Auch Schwarzbrot hat meine Mutter viele Jahre lang selbst zubereitet. Später sandten Bochumer Bäcker mit Wagen Brot und feinere Backwaren aufs Land, und in späteren Jahren entstanden auch in Werne und auf der Werner Heide bessere Bäckereien. Da endlich erhielt mein Vater seine so lange ersehnten frischen Brötchen zum Morgenkaffee. Von Haus zu haus wanderten Händler mit den im bergischen Lande und dem benachbarten Westfalen so beliebten Burger Bretzeln.
Durch unsere Gegend zogen auch Männer und handfeste Frauen, die in hohen Kiepen allerlei Waren mit sich schleppten, um sie den Landbewohnern zu kaufen, ferner Mausefallenhändler, dann Leute, die Messer, Scheeren und Kaffeemühlen schärften, zuweilen wohl auch stahlen, Zinngießer, die alte verbeulte Löffel umgossen, fahrende Musikanten mit Flöten und Dudelsack, wandernde Kapellen, Drehorgelmänner, Menschen, die Affen und Kamele zeigten, Bärenführer, Zigeuner, Kesselflicker, Topfbinder und sonstige Gesellen. Auf dem Hellweg aber wanderten Handwerksburschen mit korkzieherartige gedrehten Ziegenhainern.
Unser bester Freund war der Lumpensammler, auch Klüngelkerl genannt. Blies er lockend auf seiner Flöte, wie der Rattenfänger von Hameln, dann liefen die Kinder und brachten Knochen, Lumpen und irgendwo „gefundene“ Metallstücke. Der Klüngelkerl nahm alles und versenkte es in seinen von einem Hunde gezogenen Wagen. Wir empfingen dafür Ringe mit einem Stein, Nadeln, Griffel, Bilderbogen von Karl Gustav Kühn in Neu-Ruppin und ähnliche Gegenstände.
Die Zigeuner flößten uns Schrecken ein. Wurden wir ihrer ansichtig, dann rissen wir aus. In Westfalen wurden diese braven Leute „Heiden“ genannt. Ich sah einmal, als ich schon studierte, in meiner Heimat einen langen Zug dieser ruhelosen Wanderer mit vielen Wagen und Pferden und dachte an die Schilderungen, die uns von dem Erscheinen der Kosaken in Deutschland im Jahre 1813 überliefert ist.
Der Schuster und seltener auch der Schneider, beide mit ihren Gesellen, kamen in unser Haus und fertigten Schuhwaaren und Anzüge, oder besserten aus. Zeug und Leder kaufte meine Mutter in der Stadt. So schloß sie sich dem Brauch des Landes an. Mein Vater ließ allerdings bei einem Schneider in Witten arbeiten. Um das Jahr 1870 errichteten auch in Werne Schuhmacher und Schneider Läden, in denen man seinen Bedarf decken konnte.
In unserer unmittelbaren Nähe wohnte in einem Hause, das einst mein Vater entworfen hatte, ein Bauer Kohlleppel. Seine Frau wurde eine gute Freundin meiner Mutter, und die Tochter eine Freundin meiner ältesten Schwester. Diese Frau Kohlleppel war eine redegewandte, schlagfertige und resolute Person, die es fertig gebracht hätte, selbst den Teufel aus der Hölle zu jagen. Mehr als 80 Jahre alt ist sie vor einiger Zeit (1922) in Werne gestorben.
Im Verkehr mit meinen Schulkameraden und den Arbeitern der Zeche lernte ich natürlich spielend das westfälische Platt. Es ist mir später wohl zustatten gekommen, denn seine Kenntnis hat mich befähigt, auch die Werke unserer plattdeutschen Schriftsteller mit Verständnis und Genuß zu lesen.
Aufs Gymnasium nach Bochum
Als ich in das elfte Jahr ging, dachten meine Eltern daran, mir eine höhere Schulbildung zu Teil werden zu lassen. Meine Mutter war in dieser Angelegenheit und in ähnlichen Dingen der anregende und treibende Geist. Selbstverständlich wurde das Orakel des Dorfes, der Lehrer Nölle, zu Rate gezogen. Ganz nach altem und ältestem Muster empfahl er, ich solle zunächst einmal in Bochum lateinische Stunden nehmen, dann könne man ja weiter sehen. So ging denn meine Mutter, es war im Frühling 1866, nach Bochum und setzte sich mit Herrn Faber, einem Lehrer des Gymnasiums, in Verbindung. Der war bereit, und fortan wanderte ich zweimal in der Woche über Land nach Bochum, mit Grammatik und Lesebuch. Meist ging ich zu Fuß hin und zurück. Da mußte ich meiner Mutter aus Bochum noch Waren mitbringen, einmal einen großen, schweren Topf für ein Oleanderbäumchen, dessen Transport mir manchen Seufzer entlockt hat. Als der Winter kam, durfte ich zuweilen die Eisenbahn benutzen. Sehr fleißig bin ich nicht gewesen.
An einem schönen Tag im Anfang des Juli 1866 kam ich einmal nach Bochum. Da war in der Stadt eine freudige Bewegung, man verschoß viel Pulver und steckte Fahnen heraus. Als ich zu Herrn Faber ins Zimmer trat, sagte er: „Nun Ernst, hast Du schon gehört? Gestern haben die Preußen bei Königgrätz gegen die Österreicher eine große Schlacht gewonnen.“ Vom Kriege gegen Österreich hatte ich allerdings schon viel gehört, aber von der großen Schlacht am 3. Juli war mir noch nichts bekannt geworden. Nach der Unterrichtsstunde ging ich nach Hause, sah auf den Schachttürmen die Fahnen wehen und hörte die Freundschüsse. Auch auf unserer Zeche war alles außer Rand und Band. Man benutzte damals Sprengöl, später im Jahre 1870, bediente man sich des Dynamits, wenn es galt, die Luft zu erschüttern. Sprengöl und Dynamit wurden auf den Gruben zum sprengen des Gesteins und der Kohle in den Flözen benutzt.
Ich will hier einschieben, daß mein Vater, um dem Lesebedürfnis und dem Bildungsdrang zu genügen, einen Lesezirkel gründete, der viele Jahre bestanden hat.
Unterüberschrift?
Hier angekommen, muß ich zunächst wieder einige Jahre zurückschauen, um über einige Ereignisse in unserer Familie zu berichten. Im Winter des Jahre 1864 besuchte meine Mutter ihre Erfurter Heimat. Dort überraschte sie der Storch. Sie kehrte mit einer in Erfurt geborenen Tochter zurück, die den Namen Hermine erhielt. Wir holten sie in der Dunkelheit vom Bahnhof Langendreer ab, mein Vater trug das kleine Bündel, und als dieses nun zu Hause auf den Tisch gelegt und aufgewickelt wurde, und ein zierliches Puppengesicht und zwei kleine geballte Fäuste zum Vorschein kamen, da jubelten wir Kinder und nahmen das Menschenkindlein froh in unseren Kreis auf. Ich weiß, daß ihm zuerst Wasser mit Altheesaft eingeflößt wurde. Diese liebe Schwester ist jetzt schon Großmutter, sie lebt in Neu-York als Witwe. Im Jahre 1867, als ich schon in Mülheim an der Ruhr die Schule besuchte, kam meine jüngste Schwester Helene zur Welt. Sie weilt nicht mehr unter den Lebenden.
Der Winter 1866/1867 war recht beschwerlich für mich, denn ich fuhr fort, die Stunden in Bochum zu besuchen. Ich erinnere mich, daß ich einmal auf einem lehmigen Landwege im Schneeschlamm fast stecken geblieben wäre. Froh war ich daher, als im Januar 1867 eine Änderung eintrat. Mein Onkel Friedrich in Mülheim wollte mich in sein Haus aufnehmen, um mir den Besuch der dortigen Realschule erster Ordnung zu ermöglichen. Der Direktor dieser Anstalt hatte sich bereit erklärt, mich mitten im Semester in die Sexta aufzunehmen, weil ich schon Unterricht in Latein genossen hatte. So verließ ich denn in den letzten Tagen des Januar 1867 schweren Herzens das Haus meiner Eltern, meine Eltern und Geschwister, meine Schulkameraden, die Schule in Werne und die Stätten meiner Knabenspiele.
In Mülheim nahm mich meine Kusine Ernestine, die älteste Tochter meines Onkels, die fünf Jahre älter war als ich, am Bahnhof in Empfang. Wir machten uns auf den Weg zur Eppinghofer Straße, wo der Onkel wohnte, und gingen durch eine damals noch wenig bebaute Gegend. Als wir zu einem niedrigen Häuschen kamen, sagte meine Kusine: „So Ernst, nun sind wir zu Hause, geh nur voran.“ Das tat ich denn auch, aber ich sah in dem Hause nur ein paar mir völlig unbekannte Personen, und meine Kusine stand draußen und bog sich vor lachen. Sie hatte mich, der ich niemals in Mülheim gewesen war, in ein fremdes Haus geführt. Einige hundert Schritte weiter kamen wir zu einem stattlichen Gebäude. Da setzte Ernestine ein ernstes Gesicht auf und sagte: „Nun will ich Dich aber nicht wieder anführen. Hier wohnen wir wirklich, nun geh mal voran.“ Ich Unschuld vom Lande tat das auch, und es ereignete sich dasselbe wie vorher. Ernestine aber wollte sich vor lachen überschlagen. Endlich kamen wir zur Eppinghofer Straße und zum richtigen Hause des Onkels. Wieder forderte sich mich auf, voran zu gehen und zu klingeln. Doch da vermutete ich neue Fallstricke und weigerte mich auf das Entschiedenste einzutreten, bis ich endlich das mir bekannte Vollmondgesicht der Tante sah. Nun wußte ich, daß ich am Ziel war.
Mein Onkel Friedrich hatte fünf Kinder, die schon genannt habe. Vier von ihnen war noch bei den Eltern. Außerdem lebte im Hause meines Onkels seit etwa einem Jahre mein Großvater Ehrhardt, den ich zu meiner großen Freunde nun hier in seiner Stube begrüßen konnte.
Wie ganz anders gestaltete sich nun mein Leben. An die Stelle meiner Eltern waren der strenge Onkel und die Tante getreten, an die meiner Geschwister die Vettern und Kusinen, die zum Teil älter waren als ich. Vom Lande war ich in die Stadt versetzt, und den Unterricht in der Schule genoß ich mit Stadtkindern, die mit wenigen Ausnahmen jünger waren als ich.
Die bedeutendste Person im Hause meines Onkels war mich mein Großvater. Die Unterhaltung mit ihm bereitete mir zuerst einige Schwierigkeiten, denn er war damals schon schwerhörig. Aber sein Geist war noch frisch. In seiner Tischlerwerkstatt auf dem Hofe habe ich ihm oft geholfen. Als er sich später mit allerlei kleinen und leichteren Arbeiten auf seinem Zimmer beschäftigte, roch es da stark nach Kleister, Leim und Kautabak. Mit einer Pfeife oder Zigarre oder gar einer Zigarette habe ich ihn nie gesehen. Er war gottesfürchtig. Zuweilen hörte ich in einem Nebenzimmer, wie er in singendem Ton laut in der Bibel las. Bei den gemeinschaftlichen Mahlzeiten erzählte er bisweilen aus seinem bewegten Leben. Ich glaube, mein Großvater hat sich in Mülheim ganz wohl gefühlt. Die Stadt gab ihm manche Anregung, und früher hatte er sie ja auch schon gründlich kennen gelernt, denn hier hatte er eine Reihe von Jahren gelebt.
Der Onkel Friedrich war ein fleißiger, in seinem Fach sehr fähiger und bedeutender Mann, der viel reisen mußte, um den Geschäften seines Berufes nachzugehen. Zu Hause führte er ein strenges Regiment. Gegen mich war er immer gütig und wohlwollend. Mein Fortkommen in der Schule lag ihm sehr am Herzen und erregte seine Teilnahme. Im Jahre 1867 besuchte er die Pariser Weltausstellung. Mir brachte er einen kunstvollen aus Elfenbein geschnitzten Federhalter mit, in der eine winzige Glaslinse eingelassen war. Hielt man den Halter gegen das Licht, dann sah man durch die Linse ein Bild des Ausstellungspalastes. Gütig und fürsorglich war gegen mich auch die nüchternde, meist in langweiliges Grau gekleidete Tante. Am meisten aber nahm sich meiner die Kusine Ernestine an. Später, als ich zur Tertia aufgestiegen war, versuchte ich ihr zum Dank dafür das Englische, so wie ich es lernte, beizubringen. Mein Vetter Heinrich war ein eitler Geck. Der zweite Vetter Gustav, wurde mein Schul- und Spielkamerad. Der jüngste, Leo, war noch Schüler der Volksschule in Eppinghofen. Die zweite Tochter des Onkels, Karoline, die etwa in meinem Alter stand, besuchte im Jahre 1867 die höhere Töchterschule in Mülheim und kam dann in eine Pension nach Solingen.
Die Stadt Mülheim liegt an der Stelle, wo die Ruhr das Hügelland verläßt und in die Ebene tritt, in abwechselungsreicher, anmutiger Gegend. Eine Kettenbrücke verband, als ich in Mülheim lebte, die Stadt mit dem gegenüber liegenden Ufer, wo das Schloß Broich auf einer mäßigen Anhöhe lag. Über diese Brücke führte der Weg nach Speldorf und weiter nach Duisburg, der ehemaligen Universitätsstadt. Auf der Ruhr verkehrten viele Schiffe, die meist vom Oberlauf des Flusses Kohlen nach Ruhrort brachten. Die Realschule, deren Schüler ich nun geworden war, lag an der Friedrichstraße, etwas weit entfernt von der Eppinghofer Straße. Diese Anstalt ist später in ein Gymnasium verwandelt worden und wird jetzt als städtische Realschule bezeichnet.
Einige Wochen war ich in Mülheim, da überfiel mich das Heimweh. Meine Tante sah das und beschloß, mich auf einen Sonntag nach Hause zu schicken. So setzte ich mich vergnügt auf die Bahn. Unterwegs erlebte ich ein Eisenbahnunglück. Damals kreuzten sich bei Heißen zwischen Mülheim und Essen die Gleise der bergisch-märkischen und der rheinischen Bahn in derselben Ebene. An diese gefährliche Stelle waren wir gekommen, da erhob sich in dem Abteil, in dem ich saß, ein gellendes Geschrei: Es gibt ein Unglück! In demselben Augenblicke kam ein fürchterlicher Stoß. Die Lokomotive eines Zuges der rheinischen Bahn war gegen die unseres Zuges gefahren, und beide zischten, wie zwei blindwütige Drachen, die sich ineinander verbissen haben. Wir mußten warten, bis von Essen ein Zug kam, der uns weiter beförderte. Als ich meine Eltern wiedersah, wie wunderbar traulich erschien mir da unser Haus mit seinen Zimmern und dem Dachboden, wo meine lieben Täubchen wohnten, wie lieb vertraut die rußige Zeche. Selbst den abscheulichen Geruch der brennenden Halden sog ich mit Begier ein. Die Tante hatte das richtige Mittel mich zu heilen gefunden, denn als ich wieder nach Mülheim zurückgekehrt war, gewöhnte ich mich an die fremden Verhältnisse und harrte geduldig der nächsten Ferien, die auch nicht lange auf sich warten ließen.
Die Schule und die Lehrer
In der Schule kam ich gut voran, denn Herr Nölle hatte einen guten Grund gelegt, aus dem auch andere Pflanzen freudig aufwuchsen. Von der Sexta an hatte ich immer einen der ersten Klassenplätze inne.
Direktor der Schule war, als ich in Mülheim begann die Bänke zu drücken, ein Herr Kruse. Sein Nachfolger wurde Herr Grühl, ein Mann mit bartlosem Gesicht und feurigen Augen. Vor ihm hatten wir einen heiligen Respekt. In Rang und Ansehen folgte ihm der Professor Nagel, ein gewaltiger Sprachgelehrter, der in heftigen Zorn geraten konnte und es verstand, beißend spöttische Bemerkungen von sich zu geben. Diese richteten sich natürlich meistens gegen uns. Als wir an einem heißen Sommertage nachmittags in der Untersekunda einzuschlafen im Begriff waren, tobte er: „Da sitzen Sie wie die Mehlsäcke“ Ein Mitschüler Heidelberg übersetzt L’Europe centrale = mittelmäßiges Europa. Da fuhr ihn Nagel an: „Ja, dazu gehören Sie!“
Andere Lehrer waren Deike, Pahde, Werry, Wimmenauer, Weßberge, Kaiser, Pieper, der Turn- und Gesanglehrer Grell, der Zeichenlehrer Wetzel, der sich immer „Maler Wetzel“ und „Künstler“ nannte, die Religionslehrer Berns und Natory und andere, die weniger tiefe Eindrücke in meiner Seele hinterlassen haben.
Deike habe ich nicht verehrt, noch viel weniger geliebt. Er war ein kleines dickes Männlein mit stets glatt rasiertem Gesicht, eintrockener Pedant. Er trug bescheiden hervorragende Vatermörder und ein mehrfach um den kurzen, dicken Hals geschlungenes, schwarzes Halstuch. Bei ihm lernten wir Mathematik, Physik und Chemie. Die Stöchiometrie war sein Steckenpferd. Viele Aufgaben aus dieser edlen Wissenschaft mußten wir lösen, sogar zu Hause, denn er hatte ein stöchiometrisches Aufgabenbuch herausgegeben, das sich jeder Schüler kaufen mußte. Wieviel kostbare Zeit haben wir damals mit nebensächlichen, nutzlosen Dingen vertrödelt. Dieser Schultyrann „Papa Deike“ konnte zuweilen keifen und recht kratzbürstig werden.
Pahde würzte seinen Unterricht in Latein, Deutsch, Geschichte und Geographie zuweilen mit allerlei lustigen Bemerkungen. Auf dem Schulhof wurde einmal eine eingegangene Ulme gefällt, und der Arbeiter grub zur Entfernung aller Wurzeln ein tiefes Loch. Nach einer Pause kam Pahde in die Klasse und fragte einen von uns: „Sagen Sie mal, welche Wurzeln haben Sie in der Mathematikstunde auszuziehen gelernt?“ Der gab zur Antwort: „Oh, die Quadratwurzel und die Kubikwurzel.“ „So, nicht mehr?“ sagte Pahde. „Da draußen auf dem Schulhof ist ein ganz gewöhnlicher Arbeiter, der hat soeben schon die zehnte Wurzel ausgezogen.“ Ein Schüler Rath aus Saarn kam einmal mit dicht verbundenem Kopf und Mund in die Klasse: „Na Rath, bist Du bissig, oder beißen Dich die Zähne?“ Als Rath einmal eine Frage nicht beantworten konnte: „Da steht nun der Rath alles Rathes baar.“ Ein anderer Schüler sollte ihm die großen Flüsse Nordsibiriens nennen. Schütte, so hieß er, begann: „Ob.“ Dann konnte er nicht weiter und lehnte sich stark nach hinten über, um bei seinem Hintermann Hülfe zu suchen. Der flüsterte ihm zu: „Jenissei.“ Schütte verstand nicht recht und sagte: „Senex.“ „Richtig“, höhnte Pahde, „nu man weiter.“ Den dritten Fluss nannte Schütte zutreffend: „Lena.“ Da meinte Pahde trocken: „Ja, Ob der Senex die Lena heiratet, wer kann das wissen?“ Ich brauche hier wohl kaum zu bemerken, daß das lateinische Wort senex „Greis“ bedeutet.
Werry war eine Zeit lang unser Ordinarius. Ihn haben wir alle verehrt. Er ging bald nach Vegesack und verheiratete sich da. Seine Witwe habe ich vor einigen Jahren besucht.
Wimmenauer, ein zierliches Männchen, ein Thüringer, gab Unterricht in Mathematik und Zoologie. Wir hatten ihn alle gern. Später ist er nach Mörs gegangen.
Mit dem Lehrer Dr. W. Kaiser verheiratete sich meine Kusine Ernestine im Jahre 1871. Sie ist in Elberfeld gestorben.
Unfug zu machen erlaubten wir uns nur bei dem schwachen und allzu milden Herrn Weßberge. Als wir es einmal zu toll trieben, verließ er die Klasse und lief händeringend zum Direktor Grühl. Der trat ein, legte die Hände auf den Rücken, umschritt die Klasse auf drei Seiten und schoß mit seinen durchbohrenden Augen Blitze auf die Schüler, die er für die Anstifter hielt. Eine unheimliche Stille, wie unmittelbar vor dem Ausbruch eines Gewitters, herrschte in der Klasse. Die Fenster waren weit geöffnet, denn es war ein heißer Tag. Da kam auf der Straße aus einem der nahen Steinbrüche ein Wagen mit Pflastersteinen, den drei kräftige Pferde zogen. Der Fuhrmann ging neben den Tieren und knallte laut mit der Peitsche, wie er immer trat, wenn er an unserer Klasse vorbeikam. Das war sein gewohnter freundschaftlicher Gruß an uns. Nun blieb der Hengst an der Spitze stehen, stellte sich breitbeinig hin und begann ein Bedürfnis zu verrichten. Unser Freund, der Fuhrmann, flötete dazu, um dieses Werk nach alten Fuhrmannsbrauch zu unterstützen. Dann zog er, wieder tüchtig mit der Peitsche knallend, langsam davon. Wir standen Höllenqualen aus und bissen uns auf die Lippen, um nicht zu lachen, denn im Zimmer wanderte noch immer schweigend der wütende Drache. Da endlich brach die Strafpredigt los, deren donnerndem Schwall wir unsere Häupter beugten, denn wir wußten, der Direktor verstand keinen Spaß, und im dritten Stock der Schule lag das gefürchtete Werkzimmer, in dem die ärgsten Übeltäter gezüchtigt wurden. In den Arrest sind wir damals nicht spaziert.
Religionsunterricht gab in den unteren Klassen der Lehrer Berns, ein vierschrötiger Mann mit einem Schauspielergesicht, der oft mit einem Buch Ohrfeigen austeilte.
Turn- und Gesanglehrer war Herr Grell, ein frischer, schön gewachsener Mann. Er erhob mich zum Vorturner der dritten Riege.
In den höheren Klassen lehrte Religion Herr Natory, ein Mitglied der in Westfalen bekannten und angesehenen Theologenfamilie, die aus Wengern bei Wetter an der Ruhr stammt.
Schulferien
Im Sommer tummelten wir uns fast jeden Nachmittag in der Saarner Ruhr, wo die Realschule eine Bade- und Schwimmanstalt besaß. Damals hatte dieser Teil von Mülheim noch die landschaftliche Schönheit, die ihm Barbarei und ein fast unglaublicher Unverstand später genommen haben. Ich war sehr traurig und empört, als ich im Jahre 1917 dieser Gegend einen kurzen Besuch machte und das ehemals so schöne Ufer der Ruhr an dieser Stelle seiner Reize beraubt sehen mußte.
Mit dem Ruhrtal wurden wir auf Ausflügen bekannt. Unter der Führung meines Onkels wanderten wir einst im Sommer in die Gegend von Kupferdreh, zur schwarzen Lene, einer Wirtschaft mit Aussicht in das Ruhrtal. Als wir da auf einem Waldwege gingen, begegneten uns zwei Reiter, darunter ein großer, hagerer Mann. Kaum waren sie vorbei, da sagte mein Onkel: „Kinder, das war Krupp.“ In jenen Jahren kaufte der Kanonenkönig in Mülheim hohe Linden, die aufrecht stehend mit einem großen Wurzelballen nach Bredeney zu seinem Schlosse gefahren wurden. Die Wagen fuhren durch die Stadt. So ein wandernder Baum in einer Straße bot natürlich den Bürgern und uns eine schöne Augenweide. Einmal blieb an einer Biegung der Teiner Straße ein solcher Baum mit seiner Krone am Dache eines hohen Hauses hängen.
An einem Sonntage durften wir den Onkel nach Witten begleiten, wo meine Kusine Ernestine ein Jahr lang in dem Hotel von P. Voß das Kochen lernte. Erinnerlich ist mir davon nur das Essen im Hotel, ich weiß noch, daß es Hühnerfrikassee gab. In diesen Schuljahren nahm mich, wenn ich in den Ferien zu Hause war, mein Vater mit auf Ausflüge. Wir besuchten das Felsenmeer und die Tropfsteinhöhle in Sundwig bei Iserlohn, später auch die Dechenhöhle bei Lethmathe. So sah ich schon in jungen Jahren einen Teil des schönen Westfalenlandes.
Mein bester und treuester Freund war in Mülheim der vierschrötige Westfale Julius Pietig. Ich habe in den Klassen immer neben ihm gesessen, später mit ihm in Berlin studiert, er hat mich in Schleswig, Bremen, in Wiesbaden und Salzuflen besucht und noch heute sind wir gute Freunde. Befreundet war ich auch mit dem an der Eppinghofer Straße wohnenden Karl Neuhaus. Im Garten seines Vaters schossen wir mit einer Büchse und anderen Schießeisen nach der Scheibe. Seine beiden Eltern ließen sich einmal von einem wandernden Künstler in Öl malen. Solche Maler zogen damals mit Empfehlungsschreiben von Ort zu Ort. Ich sah, wie der Mann mit erstaunlichem Geschick die Hauptlinien des Kopfes der Frau Neuhaus mit dem Pinsel auf die Leinwand warf.
Mit frohen Hoffnungen erwarteten wir alljährlich im Sommer die Freden der Eppinghofer Kirmeß, deren Zelte und Buden zum Teil auf der breiten Straße vor unserem Hause aufgeschlagen wurden. Wir ergötzten uns an den Späßen des Kaspar, der in Mülheim das Kölner Hänneschen genannt wurde. Am Morgen des ersten Tages schenkte uns die Tante ein silbernes Fünfgroschenstück. Das war uns ein königlicher Besitz.
Unterüberschrift
Am Schlusse des Schuljahres fand in der Aula eine öffentliche Prüfung mit Deklamationen statt, zu der Papa Deike immer eine höchst würdige Haltung und eine feierliche Miene annahm. Dieser gradezu unerhörte Unfug ist glücklicherweise längst abgestellt.
Einmal kam in die Schule ein wandernder Vorleser, ein starker Mann mit einem bartlosen Gesicht, großen stechenden Augen, die er wild rollen, und schwarzen Locken, die er schütteln konnte. Ich glaube, er konnte auch mit den Ohren wackeln. Als erstes wollte er Scherenbergs Gedicht „Waterloo“ vortragen. Die Vorlesung begann. Zunächst saß der Mann regungslos und verzog keine Miene. Dann aber begann er plötzlich fürchterlich mit den Augen zu rollen und seine Gesichtsmuskeln in der unglaublichsten weise hin und her zu schieben. In den Reihen der vor ihm sitzenden Sextaner und Quintaner begann es unruhig zu werden und zu wetterleuchten; es klang nach unterdrücktem Lachen. Da begann der Vorleser mit donnernder Stimme: „Horch! ein Kanonenschuß!“ Dann eine Pause und wieder fürchterliches Augenrollen und Auf- und Abschieben der Kopfhaut. Das gab den kleinen Zuhörern den Rest. Sie konnten sich nicht mehr halten und brachen in krampfhaftes Lachen aus. Doch der Vorleser ließ sich dadurch nicht stören und polterte weiter, bis allmählich Stimme und Gesicht in ein ruhigeres Fahrwasser kamen, und der Lachkrampf unterdrückt werden konnte. Als nachher Teile der „Stromtid“ an die Reihe kamen, durften auch wir älteren Schüler lachen.
Fähige Schüler konnten damals noch beide Tertien in einem Jahr abmachen. Dieser Vorzug wurde meinem Freunde Pietig, einem jüdischen Schulkameraden Gaus aus Grebenstein, und mir zu Teil. Herr Weßberge gab uns dazu einige unentgeltliche Nachhilfestunden im Englischen.
Unterüberschrift
Im Jahre 1869 besuchte ich mit meiner Kusine Ernestine eine Feier zum Andenken an den im Jahre 1769 gestorbenen Geistlichen und Liederdichter Gerhardt Tersteegen. Sie fand in der Petrikirche statt. Wundervoll sang der Lehrergesangsverein das Lied Tersteegens: „Ich bete an die Macht der Liebe.“ Tersteegens Grab liegt an der Nordseite der Petrikirche.
In Mülheim sah ich damals zum ersten Mal ein Fahrrad, ein ganz aus Holz gearbeitetes, plumpes Ding.
Meinem Vetter Gustav und mir stand zum Baden die schöne klare Ruhr zur Verfügung. Trotzdem gingen wir aber oft nach Mellinghofen. Da lag ein Bauernhof Quattelbaum, dabei ein Mühlenteich mit lehmigem Wasser. In diesem badeten wir. Die Mühle, ein im Rohbau dastehendes Haus, war nicht mehr im Betrieb. An einem Giebel hatte in bedeutender Höhe über der Erde in einem Mauerloch ein Rotschwänzchen genistet. Gustav ging in die Mühle, öffnete ein Fenster und kletterte an der Mauer in die Höhe, indem er seine Finger und Zehen in die offenen Fugen zwischen den Ziegelsteinen schob. So angeklammert stieg er zum Nest und holte die Jungen heraus, die wir aufzogen und dann fliegen ließen.
Wir beide besuchten an einem Tage im Juli den Onkel Matthes in Speldorf. Dort kletterten wir auf einen der Kirschbäume im Hof und aßen von den Früchten, bis es wirklich nicht mehr ging. Der Onkel hatte hinter seinem Garten auch einen Fischteich. Als wir nach Mülheim zurückkehren wollten, drückte er in unsere Hände einen großen, in Papier eingewickelten, gebratenen Fisch, mit der Weisung, diesen nebst einem schönen Gruß dem Großvater zu überbringen. Wir zogen ab, hielten uns unterwegs aber ziemlich lange auf, denn wir streiften seitwärts durch die Wälder der Saarner Mark. Als wir da ermüdet rasteten, besahen wir uns den Fisch, er schön braun gebacken war und herrlich duftete, wickelten ihn aber wieder ein. Bei einer zweiten Rast besahen wir den Fisch noch einmal und wickelten ihn wieder ein. Wir litten Seelenschmerzen. Beim dritten Mal endlich brachen wir von dem Fisch ein kleines Stückchen ab und kosteten. Nun war kein Halten mehr, bis der Fisch verzehrt war. Von dieser Tat haben wir zu Hause kein Wörtlein verlauten lassen. Aber bald kamen mir doch Gewissensbisse. Ich beschloß, mein Vergehen einigermaßen wieder gut zu machen und habe dem Großvater von da an besonders fleißig in seiner Werkstatt geholfen, wenn es sich zum Beispiel darum handelte, beim Sägen ein Brett zu halten, oder bei anderen Arbeiten, bei denen ihm Hülfe willkommen war.
Bei dem Gastwirt und Tanzlehrer Kufferath in Mülheim, gegenüber der ehemaligen Post am Nothweg, habe ich tanzen gelernt. Herr Kufferath, ein kleines Männlein in weißem Hemd, stand auf einem Stuhl und spielte die Violine, wenn er zum Tanz kommandierte. Da kamen die wunderlichsten Worte zum Vorschein, zum Beispiel: „Schehnarleh“ statt „chaîne anglaise“ und ähnliche Bildungen. Unter den Tänzerinnen war die mit ungefügen Gliedern ausgestattete Tochter eines Metzgermeisters, die ich oft aus peinlichem Warten erlöste und zum Tanze holte, obschon das Tanzen mit ihr dem Vergnügen gleichkam, das man empfindet, wenn man dazu verurteilt ist, eine schwere Kommode durch einen Saal zu schieben. Aber meine Opferwilligkeit entsprang nicht allein dem Mitleid, sondern hatte noch einen besonderen Grund. Die Metzgertochter brachte mir nämlich zuweilen ein Stück feiner Leberwurst mit und drückte mir dieses Geschenk als Beweis ihrer Dankbarkeit in irgend einer dunklen Ecke in die Hand. Nach Hause habe ich sie aber nie begleitet, denn ich wusste einen Schleichweg durch eine enge, dunkle Gasse. Diese durchschreitend konnte ich ungesehen und ohne mit meinen Tanzgenossen teilen zu müssen, die mit Liebe geschenkte Wurst mit Behagen verzehren.
An der Schule gab es Lehrer und Hülfslehrer. Die fest angestellten Lehrer wurden als ordentliche Lehrer bezeichnet. Ein Teil von dieser hatte, wenn ich mich recht erinnere, den Titel Oberlehrer. Der Titel Professor wurde in jener Zeit nur denjenigen Lehrern verliehen, die sich durch eine wissenschaftliche Leistung ausgezeichnet hatten. So wurde kurz vor dem Jahre 1870 der Lehrer Nagel nach der Herausgabe eines wertvollen Wörterbuches zum Professor ernannt. Zur Feier dieses Ereignisses versammelten sich an einem lauen Sommerabend die Lehrer unserer Schule in der Villa Nagels an der Friedrichstraße, und wir Schüler und Mitglieder des Chores stellten uns im Garten auf und sangen einige Lieder. So gewann diese Ernennung auch für uns Wert und Bedeutung. Wir erkannten, daß die Verleihung des Titels auf einer Leistung von wissenschaftlichem Wert beruhe, und in uns erwuchs die Achtung nicht nur des Titels, sondern auch der Person, der die Auszeichnung zu Teil geworden war.
Im Jahre 1870 wurde ich von dem Pastor Horstmann in der Lutherischen Kirche an der Delle konfirmiert. Ich mußte bei der Feier für meine Mitkonfirmanden das Glaubensbekenntnis aufsagen und blieb dabei nicht stecken. Meine Eltern waren zu der Feier nach Mülheim gekommen. Das kleine Gotteshaus ist jetzt abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt. An der Kirche neben dem im kräftigen Mannesalter stehenden Pastor Horstmann ein steinalter Pastor tätig, der schon vor vielen Jahren das Alter erreicht hatte, in dem die Geistlichen in den Ruhestand zu treten pflegen. Er tat noch immer Dienst und sagte einmal, er werde noch predigen, wenn man ihn auf die Kanzel tragen müsste. Dazu ist es Gott sei Dank nicht gekommen. Die ältesten Redewendungen, die man nur noch in verstaubten schweinsledernden Bänden fand, und längst nicht mehr gebräuchliche Worte flossen in den Predigten von seinen Lippen. So sagte er zum Beispiel nicht: „Was Gott der Herr von uns fordert“, sondern „Was Gott der Herr von uns fodert“. Erklang dieses oft von ihm angewandte Wort „fodern“, dann hätte ich aus der Haut fahren mögen. Eine jede seiner entsetzlich langen Predigten bestand aus drei Teilen. Die Überschriften dieser Teile gab er den Zuhörern kund und zu wissen, nicht einmal, sondern zweimal, damit ein Jeder sich dieses Knochengerüst seiner Rede auch ordentlich in das Gehirn einprägte. War diese zweite Mitteilung vom Stapel gelaufen, und sollte nun der Sermon beginnen, dann ging eine Bewegung durch die Gläubigen. Da rückten und setzten sie in den Bänken sich bequem zurecht, denn nun war eine schöne Gelegenheit gekommen, ein Morgenschläfen zu halten, das in der kühlen Kirche, besonders an heißen Sommertagen, sehr erquicklich war. Am ersten schlief immer der Bälgetreter ein.
Der deutsch-französische Krieg 1870/71
Im Juli des Jahres 1870 wurde es wie in ganz Deutschland auch in Mülheim lebendig wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Überall eilten beim Ausbruch des Krieges gegen Frankreich Einberufene und Freiwillige zu den Fahnen. Bald kamen durch Oberhausen nicht weit von Mülheim Züge mit Soldaten und Kriegsgerät. Auf dem Oberhausener Bahnhof wurden die Truppen mit den von Städten und Dörfern gelieferten Lebensmitteln und Getränken bewirtet. Da gab es auch für uns viel zu schauen. In den Schulen war eine Begeisterung ohne Gleichen. Einer unserer Lehrer, Pieper, eilte mit ins Feld, auch einige Primaner stellten sich und zogen den bunten Rock an. Nach Oberhausen liefen wir auch, als das Gerücht erscholl, der König Wilhelm werde auf der Reise zum Kriegsschauplatz durchfahren. Leider kamen wir eine volle Stunde zu spät. Als wir in Oberhausen angelangt waren, erfuhren wir zu unserem schmerzlichen Bedauern, daß der König mit seiner Begleitung schon weiter gefahren sei.
Als ich in jenen Tagen einmal mit meiner Kusine von einem Gange in die Stadt zur Eppinghofer Straße zurückkehrte, stand da ein Ausrufer mit einer Schelle, der von den ersten Plänkeleien bei Saarbrücken berichtete. Was wir da hörten, stimmte uns nachdenklich. Dann aber kamen die frohen Nachrichten von Weißenburg, Wört und von den Spicherer Höhen. Bald sahen wir auch die ersten französischen Kriegsgefangenen. Sie wurden in Steinbrüchen und Fabriken beschäftigt. Man steckte diesen armen Teufeln wohl eine Zigarre zu und erhielt von ihnen als Gegengabe ein paar blanke Uniformknöpfe. Im Hause meines Onkels wurde fleißig Scharpie gezupft. Bald aßen wir auch die neu erfundene Erbswurst, die gewöhnliche für die Mannschaft und eine bessere Mischung von Erbsenbrei mit Speck für die Offiziere. Dieses Gemenge gab es in verlöteten Blechbüchsen. Zum Aufsuchen der Speckstücke bedurfte man eines Vergrößerungsglases.
Heinrich Ehrhardt – der gescheiterte Dichter
Nun habe ich nach all diesem Schönen und Erhebenden leider und zu meiner tiefen Betrübnis etwas Schlimmes zu berichten. Als die Kriegsbegeisterung an allen Orten mächtig aufflammte, da traten auch die Dichter mit geistigen Waffen auf den Plan, neben den guten leider auch minder gute und schlechte. Zu den letzteren gehörte mein Vetter Heinrich Ehrhardt. Dieser hielt es für unumgänglich notwendig, seinen lahmen Pegasus aus dem Stall zu ziehen und zu satteln. In Elberfeld, wo er damals die Gewerbeschule mit unerheblichem Erfolge besuchte, hatte er schon ein paar Gedichte gemacht und in kleinen Blättchen der ländlichen Umgebung drucken lassen. Nun kam er in den Ferien nach Mülheim. Als wir uns einmal alle zum Scharpiezupfen am Tische versammelt hatten, zog er zu meinem größten Entsetzen ein Papier aus der Tasche, entfaltete es feierlich und begann vorzulesen, was sein Genius ihm eingegeben hatte. Eine schöne Kusine aus Danzig, die sich damals im Hause meines Onkels aufhielt, fing an das Gesicht in schmerzliche Falten zu legen und den Blick hilfeflehend zur Zimmerdecke zu richten. Das Machwerk war überschrieben: „Der sterbende Landwehrmann“. Mit erhobener Stimme las mein Vetter vor, und als er endlich schwieg, da sah er triumphierend im Kreise umher, zu beobachten, welchen Eindruck er auf die Anwesenden gemacht habe. Alles schien tief erschüttert. Da konnte ich mich nicht mehr halten und brach in Lachen aus. Darob wurde ich von den übrigen mit Ausnahme der Kusine, die [sich] das Lachen verbiß, fast gesteinigt. Natürlich zog ich mir nun den glühenden Haß des Dichtervetters zu. Doch dieser Haß legte sich bald wieder. Mein Onkel war bei dieser Vorlesung nicht zugegen. In seiner Gegenwart hätte mein Vetter es zweifellos nicht gewagt, sein wässeriges Gebräu zu verzapfen.
Der deutsch-französische Krieg 1870/71
An einem der letzten Tage des August 1870 fuhr ich in die Ferien zu meinen Eltern. Auf dem Bahnhof Langendreer war auf einem Erdhaufen ein altes eisernes Geschützrohr aufgestellt. Mit diesem wurde gefeuert, wenn es galt, eine Siegesnachricht den umliegenden Dörfern zu verkünden. Hörten wir zu Hause den Knall, dann kam auch bald vom Bahnhof, wo die Post lag, der Zechenbote mit einem Extrablatt. Dieses brachte ich gleich dem alten Pastor Rosenbaum von Harpen, der immer schon, mit seiner langen Pfeife im Bahnhof stehend, auf mich wartete, denn auch er hatte den Knall der alten Donnerbüchse gehört. Auch mit Dynamitpatronen schoß man damals. Kam eine Siegesnachricht, dann wehten alsbald die Fahnen von den Schachttürmen aller Zechen.
Am 3. September ging ich mit meinem Vater über Land nach Barop an der Bahn von Witten nach Dortmund. Als wir vor Barop auf eine Höhe kamen, hörten wir, daß überall im Tal geschossen wurde. Da kam ein älterer Mann gelaufen mit einem Kruge in der Hand, der focht mit einem Arm in der Luft umher und rief: „Se heft em!“ Natürlich der Napoleon. So erhielten wir die Kunde von der Gefangennahme des französischen Kaisers, und in Barop erfuhren wir auch Näheres über die Schlacht bei Sedan. In Barop, wo mein Vater in einer Maschinenfabrik zu tun hatte, war ein entsetzlicher Lärm. Hier schlugen die Jungen mit Steinen und Hämmern an die Puffer der Eisenbahnwagen, daß es klang, als würden viele kleine Glocken anschlagen. Wir fuhren nach Dortmund und kamen in dieser Stadt in ein noch ärgeres Getümmel. Freudig erregte Volksmassen wogten in den Straßen auf und ab. Auf dem Marktplatz vor dem alten Rathause ließen Gesangsvereine vaterländische Gesänge erschallen. Immer wieder ertönte die Wacht am Rhein. Ein Mann erschien mit einer Kiepe auf dem Rücken, darin hockte hinter hölzernen Stäben wie im Kerker ein kleines Männchen mit einem Napoleongesicht. In den Kneipen aber flossen an diesem Abend Ströme von Bier.
Bald ging ich wieder nach Mülheim zurück. Als der Friede geschlossen war, wurden wir in die Aula gerufen und sangen nach einer kurzen Ansprache des Religionslehrers Natory das alte Lied: Nun danket alle Gott.
Mein Onkel hat mit einem anderen Herrn aus Mülheim einen Eisenbahnwagen mit Liebesgaben für die eingezogenen Mülheimer bis an die Tore der belagerten Festung Metz gebracht. Über seine Erlebnisse berichtete er mit Hülfe seines zu Hause gebliebenen zukünftigen Schwiegersohnes Dr. Kaiser in einem Lokalblatt.
Als meine Kusine Ernestine im Frühling 1871 heiratete und nach Essen zog, sah ich sie mit aufrichtigem Bedauern scheiden. Sie hatte sich meiner immer so liebevoll angenommen und immer für mich gesorgt.
Die Gartenlaube
Hier schließen nun meine Mülheimer Erlebnisse. Ich will aber noch einer Angelegenheit gedenken, die mir noch jetzt lebhaft in der Erinnerung steht. Es handelt sich um die Jahre 1868 und 1869. Da erschienen in der Gartenlaube die Romane der in Arnstadt in Thüringen lebenden Schriftstellerin Marlitt: Das Geheimnis der alten Mamsell – Goldelse – Reichsgräfin Gisela – und vielleicht auch noch andere. Diese Geschichten wurden geradezu mit Gier verschlungen. An den Tagen, an denen die Gartenlaube erschien, bemächtigte sich sämtlicher weiblicher Personen im Hause, der Tante, ihrer beiden Töchter, der zum Besuch dort weilenden Kusinen aus Danzig oder Suhl, vielleicht auch des Hausmädchens, schon am frühen Morgen eine fieberhafte Aufregung, die sich steigerte, je näher die Stunde rückte, wo die Botenfrau mit dem heiß ersehnten Familienblatt auf der Bildfläche erscheinen sollte. Steckte sie endlich die Nase durch die Tür, so wurde diese Bildfläche urplötzlich zum Gefechtsfelde, dann stürzten sich auf die Frau mehrere Personen, von denen jede die erste sein wollte. Fieberhaft wurden die Zeilen verschlungen, und schnell wanderte die Geschichte von einer Hand in die andere. Diese Romane waren so beliebt, daß Eltern ihre Kinder nach den Namen der Helden und Heldinnen nannten. Heute sind sie in das Meer der Vergessenheit gesunken.
Die Realschulzeit in Dortmund
Als ich in der Untersekunda ein Jahr lang gesessen und die Berechtigung zum Dienst als Einjährig-Freiwilliger erlangt hatte, verließ ich die Schule in Mülheim und ging zu meinen Eltern, um mich in Westfalen einem technischen Beruf zu widmen. Was nun kommen sollte, darüber hatte ich mir bis dahin wenig Gedanken gemacht. Das wollte ich erst mit meinen Eltern besprechen.
Meine Muter fuhr bald nach meiner Rückkehr mit mir nach Dortmund. Dort besuchten wir auch meinen Onkel Leineweber und sprachen mit ihm über mein weiteres Leben und tun. Der sagte, ich hätte erst einen kleinen Blick in die Wissenschaft getan und sollte, bevor ich einen Beruf wählte, mir zunächst einmal eine gründliche Schulbildung aneignen, das heißt, auch fernerhin eine höhere Schule besuchen und das Abiturientenexamen ablegen. Das leuchtete mir und meiner Mutter, die immer das Höchste erstrebte und kein Opfer scheute, wenn es galt, das Erreichbar zu erlangen, wohl ein. Da nun auch mein Vater sofort einverstanden war, so wurde beschlossen, ich sollte die Realschule erster Ordnung in Dortmund besuchen. Dorthin wandte ich mich nun, und ich trat in die Untersekunda ein. Das war im Herbst 1871.
Diese Schule war mit dem Gymnasium in einem großen Gebäude vereinigt, das an der Märkischen Straße lag, unmittelbar am Wall und am Graben der alten Festung Dortmund. Beide Schulen standen unter dem Direktor Döring, der später als Universitätsprofessor in Berlin lebte.
Von den Lehrern erteilten die meisten Unterricht an beiden Anstalten. Von ihnen will ich zunächst nennen den etwas verknöcherten und starren Professor Voigt, Mathematiker und Physiker, einen oft strengen, doch im Grunde wohlwollenden Mann, dem ich viel Dank schule. Mit mir hatte er so seine Last, denn ich bin immer ein schlechter Mathematiker gewesen. Dieser Wissenschaft habe ich nie, auch beim redlichsten Willen nicht, Geschmack abgewinnen können.
Ferner Professor Böhm, bei dem wir in der Prima Ovid, Sallust und Virgil lasen, einen Mann, der uns Lieb zum Latein einzuflößen verstand und kaum noch in dieser Welt, sondern im Himmel der alten Sprachen lebte.
Herr Ladrasch, ein kleiner, breiter Mann mit starkem Bart, lehrte Chemie und Physik. Er trug den Spitznamen Hury. Machen die meisten beim Nießen: „Hatsi!“, so machte Herr Ladrasch „Hury!“. So erwarb er sich in den unteren Klassen den wenig klangvollen Spitznamen. Unbarmherzig wurde er in der Sekunda geplagt. Da rollten unter den Bänken mit Scherben gefüllte Flaschen, flogen Maikäfer auf, liefen Mäuse umher und sprangen Frösche. Zuweilen auch fiel mit gewaltigem Krach und Gepolter die Wandtafel mit ihrem Gestell um, wenn dieser Lehrer ins Zimmer trat und sie mit der nach Innen aufschlagenden Tür auch nur leise anrührte.
Unterricht in Deutsch und Geschichte gab Herr Mette. War es im Sommer nachmittags recht heiß, dann setzte er sich wohl auf den Katheder und sagte: „So, nun wollen wir mal Denkübungen halten.“ Alsbald wurde es mäuschenstill, und dann wußten wir, daß Herr Mette sein Mittagsschläfchen hielt. In Dortmund ist er als Illustrator von Liedern bekannt geworden, zum Beispiel des Gesanges Vom Pastor sine Kauh und des Gedichts Als die Römer frech geworden. Das war zur Zeit der Vollendung des Hermannsdenkmals auf der Grotenburg bei Detmold.
Herr Schramm lehrte Französisch und Englisch und gefiel sich oft in sarkastischen Bemerkungen.
Zeichenlehrer war ein alter Herr namens Rokohl, bei dem ich gar nichts gelernt habe. Der Mann war völlig unfähig, das ihm übertragene Amt zu verwalten. Wie es möglich war, daß er in Dortmund eingesetzt und dort geduldet wurde, ist mir heute noch ein Rätsel. Einst nahm ich mir zum Abzeichnen das perspektivische Bild der von Adler erbauten Kapelle in Barskewitz und griff alle Maaße mit dem Zirkel ab, mit dem Bewusstsein, so ein treues Abbild zu liefern. Von den Gesetzen der Perspektive hatte ich damals keine Ahnung. Rokohl auch nicht.
Einer meiner treuesten Schulfreunde in Dortmund war Albert Haas, jetzt Bergrat in Siegen; ein anderer Freund war Otto Berghaus, der als Baurat in Hannover lebt. Mit beiden stehe ich noch in Verbindung.
Zuweilen besuchte ich in Dortmund das Theater, damals in einem notdürftig für Theaterzwecke umgebauten Zirkus aus Holz. Es stand unter der Leitung des Direktors Grevenberg. Dort wurde alles gegeben, Opern, Schauspiel, Trauer- und Lustspiele, Operetten und Possen. Da habe ich die Mallinger im Faust gehört und die Schauspielerin Erhardt bewundert, auch Theodor Wachtel im Postillon von Longjumeau meisterlich mit der Peitsche knallen hören.
In Dortmund nahm mich der Drechslermeister Blume in sein Haus auf. Hier lebte man noch ganz nach der Sitte der Väter. In jeder Woche einmal wurde abends eine große Pfanne mit gebratenen Kartoffeln auf den Tisch gesetzt, so wie sie auf dem Ofen gestanden hatte. Zuerst stach der Hausvater mit seiner Gabel in die Pfanne, dann die Frau Meisterin, darauf die beiden Söhne und ich, und endlich kamen die Gesellen, die auch mit am Tisch des Meisters aßen, nach ihrem Alter an die Reihe. Diese durch das Herkommen geheiligte Reihenfolge wurde streng innegehalten. Keiner wagte es, vor dem Herrn und der Frau mit seiner Gabel den Kartoffelberg in Angriff zu nehmen. Man aß unmittelbar aus der Pfanne, Teller gab es nicht. In dem Berg entstand bald ein Loch neben dem anderen. In der Mitte blieb ein Turm, der aber auch bald abgetragen wurde. Dieses Gericht nannte man: „Schieben inne Panne“. Frau Blume betrieb einen kleinen Handel mit Kasseler Sauerbrot.
Meine Eltern besuchte ich oft. Ich ging Sonnabends den drei Stunden langen Weg über Dorstfeld, Marten und Lütgendortmund zu unserer Zeche, begleitete von meinem Schulkameraden Berghaus, dessen Vater Beamter auf der Zeche Neu-Iserlohn nicht weit vom Hause meiner Eltern war.
Dortmund war eine echte westfälische Stadt, deren Bewohner noch an alten Sitten und geerbten Bräuchen hingen. Die Bierbrauerei spielte dort, wie heute noch, eine große Rolle. In kleinen Betrieben stellte man noch das Altbier her, ein säuerliches Getränk, das wenig schäumte und besonders im Sommer getrunken wurde. Von anderen alten Bierarten nenne ich noch das Doppelbier und das Adamerbier.
Ein geliebtes Gebäck war der Salzkuchen, rund, aus Brötchenteig geformt, der mittlere Teil etwas eingedrückt und mit Salz und Kümmel bestreut. Sehr beliebt war neben dem Schwarzbrot der Pumpernickel.
Nicht lange nach meinem Eintritt in die Dortmunder Schule suchte mich eine schwere Krankheit heim. Im Jahre 1871 war auf dem Schacht Arnold tief unten im Pumpenschacht der Ventilkasten geplatzt, ein gusseisernes Ungetüm mit Klappen im Innern. Die Grube ersoff, und es mußte ein neuer Ventilkasten eingebaut werden. Das Ausleeren des Wassers aus der Grube geschah mit großen gezimmerten Kasten, die auf die Förderkörbe geschoben wurden. Erst als nach der Trockenlegung der Grube der neue Ventilkasten eingebaut war, konnten die Pumpen wieder in Gang gebracht werden und die Bergleute wieder einfahren. Bei der Leistung der Arbeiten hatte sich mein Vater sehr angestrengt. Er erkrankte schwer, genas aber wieder zu unserer Freude. Die damals schon sehr wohlhabend gewordene Harpener Gesellschaft überwies meinem Vater für seine treue, aufopfernde Tätigkeit mit einem Anerkennungsschreiben ein Geldgeschenk von Schwindel erregender Höhe, von sage und schreibe 50 = fünfzig Talern.
Als ich in dieser schweren Zeit nach Hause kam, wurde ich angesteckt. In Dortmund erkrankte ich. Da holte mich der allzeit hülfsbereite Obersteiger Pottkämper in einem mit zwei flinken Grubenpferdchen bespannten Wagen nach Hause, und dort nahm mich meine Mutter in Pflege, die auch erkrankt war, aber sich aufrecht hielt.
Als wir Primaner einmal ohne einen Lehrer einen Ausflug nach dem Dorfe Brüninghausen machten, uns dort in einer Gartenwirtschaft niederließen und Bier tranken, wurde unser Freund Berghaus, der wohl nie in seinem Leben mehr als ein Glas Bier getrunken hatte, urplötzlich berauscht. Der kundige Wirt gab ihm zur Ernüchtigung ein Gemisch von Senf und Wasser ein. Aber Berhaus spie es wieder aus und blieb berauscht. Was sollten wir nun mit ihm beginne? An Gehen war nicht zu denken. Wir hielten also auf der Landstraße einen Mann an, der auf einem kleinen, von zwei Hunden gezogenen Wagen saß und ein lustiges Liedlein pfiff. Er sah Berghaus an, setzte zuerst eine bedauernde, dann aber Verständnis verratende Miene auf und gestattete uns, unseren völlig hülflosen Genossen in den Wagen zu legen. So zogen wir langsam mit ihm ab in der Richtung nach Dortmund. Bald kamen wir in die bedrohliche Nähe der Schule, in deren oberem Geschoß der Direktor wohnte. Da luden wir Berghaus wieder aus und schleppten ihn, weil es unmöglich war, sich mit ihm auf der Straße sehen zu lassen, mit großer Anstrengung und mit viel Straucheln und Stolpern durch den Wallgraben zu seiner Wohnung, die glücklicherweise dicht am Wall lag. Seine Wirtin erschrak heftig, als sie uns sah, denn sie glaubte zunächst, wir brächten ihr eine Leiche ins Haus. Von dieser ganzen Geschichte haben wir uns wohl gehütet irgend Jemand ein Wörtlein zu erzählen.
In der Unterprima turnten wir einmal in der Pause im Klassenzimmer. Dabei stieß ich mit dem linken Knie heftig an die Kante des Katheders. Das war am 11. Dezember 1873. Nach zwei Tagen ging ich am Sonnabend zu Fuß nach Hause. Da spürte ich abends Schmerzen im Knie. Am nächsten Tag mußte ich im Bett bleiben. Es entwickelte sich nun unter heftigen Schmerzen eine Knochmarkentzündung im linken Oberschenkel. Während des ganzen Frühlings und des Sommers 1874 mußte ich zu Hause bleiben, treu gepflegt von meinen Eltern und Geschwistern. Diese Wunde hat viele Jahre lang geeitert. Das linke Knie blieb zum Teil steif. Das hat mich zwar in meinem Beruf nicht gehindert, aber doch bewirkt, daß ich zum Militärdienst leider untauglich wurde. Endlich im Herbst konnte ich wieder nach Dortmund und in die Schule zurückkehren. Ich zog aber nicht wieder zum Drechslermeister Blume, sondern zu einer nahe bei der Schule wohnenden, mit meinen Eltern befreundeten Familie Busse.
Die Realprima war nur schwach besucht. In der Oberprima hatte ich nur drei Mitschüler.
Mein Bruder begleitete mich einmal in den Ferien nach Bochum. Auf dem Rückwege gingen wir auf einem schmalen Pfade durch die Felder, und wir waren grade in der Nähe eines tief eingeschnittenen Kreuzweges, wo nach dem Glauben der Bevölkerung der Spuk sein Wesen trieb. Mein Bruder marschierte ein paar Schritte hinter mir und trug den zusammengeklappten Regenschirm wie ein Gewehr auf der Schulter. Er sprach von Überfällen, von seinem hohen persönlichen Mut und von seiner Art, sich beim Raufen zu verteidigen und zum Angriff überzugehen. „Wenn jetzt Kerls kämen und uns überfielen“, so prahlte er, „ich nähm’s mit dreien auf.“ Kaum hatte er das gesagt, da hörte ich hinter mir ein entsetzliches Angstgeschrei. Ich wandte mich um und sah, wie mein Bruder eilig mit allen Zeichen der Angst herbeilief. Bei mir angekommen, machte er Halt und sah schreckensbleich hinter sich. Was war geschehen? Ein Windstoß war in den Regenschirm gefahren und hatte mit den Falten gespielt, so daß diese laut flatterten. Dieses plötzliche Geräusch neben seinem Ohr hatte meinen Bruder so heftig erschreckt, daß er Reißaus nahm, in dem Glauben, die Kerle wären schon da.
Hatte ich als Knabe mit Pulver gespielt, so schloß sich mein Bruder mehr der neuren Zeit an. Denn eines Tages kam er von der Zeche nach Hause und hatte in der Hand eine bröcklige, gelbbraune Masse, die er auf den Rand des eisernen Kohlenkastens legte und mit einem glühend gemachten Stocheisen anzündete. Sie verbrannte ruhig, etwa wie Häcksel, die Flamme entwickelte aber einen üblen Geruch, der das Zimmer füllte. Als ich ihn unwillig fragte: „Was ist denn das für ein Teufelszeug?“ antwortete er, es handle sich um einen völlig harmlosen Stoff: „O, das ist nur Dynamit!“ Diesen menschenfreundlichen Sprengstoff hatte er von einem der Bergleute erbettelt. Die Masse hätte genügt, wenn sie explodiert wäre, uns mit dem Ofen und der gesamten Zimmerausstattung ein paar hundert Meter in die Luft zu blasen.
Schön waren die alljährlichen Kriegerfeste in den Jahren nach 1871. Sie wurden im Sommer und meist auf der Werner Heide gefeiert. An einem der ersten Feste oder an einem Sedantage sollten einmal alle Häuser im Dorfe und seiner Umgebung besonders glanzvoll illuminiert werden. Wir hörten leider zu spät von diesem Plan. Kerzen waren in Werne nicht mehr zu haben, und es blieb auch keine Zeit mehr, sie aus der Stadt zu holen. Rüböl und Docht aber gab es im Überfluß, und im Keller lagen große Haufen von Kartoffeln. Ich holte mir die dicksten herauf, durchschnitt sie und formte aus jeder Hälfte mit dem Messer ein Näpfchen. Die Höhlung wurde mit Öl gefüllt, dann hängte ich in das Öl ein fingerlanges Stück Docht, das eine lange Stecknadel in seiner Lage hielt, und die Lampe war zum Gebrauch fertig. Ich zwei Stunden war die Arbeit getan, und als es dunkel geworden war, erstrahlte unser Haus vom Kartoffelkeller bis zum Taubenschlage in einem Meer von Licht. Aus den Kartoffelnäpfchen aber wurde unserem Schwein ein Mahl bereitet, das ihm vortrefflich gemundet haben soll.
Das Abitur
Die Zeit der Abiturientenprüfung kam heran, unerbittlich wie das Schicksal. In das mündliche Examen kamen nur mein Freund Haas und ich. Kommissar der Regierung war der Provinzialschulrat Schultz aus Münster, Nachfolger oder Vertreter des Schulrates Suffrian, von dem die Primaner sangen:
Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken,
verderblich ist des Tigers Zahn.
Jedoch der schrecklichste der Schrecken
Das ist der alte Suffrian.
Schultz oder Schulz kam und erwies sich als ein unverfälschter Sohn des Westfalenlandes und als ein leutseliger alter Herr, und so verlief das Examen ganz nach dem Wunsche der beiden Prüflinge. Wir Beide waren ganz zufrieden. Wir legten alle Scheu ab und antworteten frisch und frei. Schultz nahm sehr oft das Wort. Das Französische sprach er ganz mit westfälischer Zunge, z. Beispiel cage = Kah-s-ch, rage = Rah-s-ch. So hart und schauderhaft sprach er diese Worte, daß der Professor Schramm, unser Lehrer in der französischen Sprache, bittend zum Himmel blickte und das Gesicht verzog, als plagten ihn die entsetzlichsten Zahnschmerzen. Am Schlusse teilte uns der Schulrat mit, daß wir wohl bestanden hätten und wünschte uns das Schönste und Beste für Beruf und Leben. Dann machte er sich zum Gehen fertig, zog einen Schal von ungeheurer Länge, so lang, daß man ihn als Seil hätte benutzen können, aus einer Tasche seines Überziehers, wickelte sich diesen Schal vielmals um den hageren Hals, knöpfte über die herabfallenden Enden des Schals seinen Überzieher zu, und nun konnte gewappnet ins Freie gehen, wo ein scharfer Frühlingswinde wehte. Er sah aus, als sei er im Begriff, eine Nordpolreise anzutreten. Das war kurz vor Ostern des Jahres des Heils 1876.
Ein feierlicher Kommers der Gymnasial- und Realabiturienten, dem auch mein Vater und Herr Blume beiwohnten, vereinigte mich noch einmal mit allen Schulkameraden. Ein westfälisches Nationalgericht, der Pfefferpotthast, wurde als kräftige Grundlage aufgetragen, dann gab es viele Reden und Gesänge und noch mehr Bier. Und dann flogen wir auseinander. Ich hatte mich mit Einwilligung meines Vaters dazu entschlossen, Baufach und zwar das Hochbaufach zu studieren.
Bevor ich aber von meiner weiteren Ausbildung spreche, will ich von den Zuständen in meinem Vaterhause und in meiner engeren Heimat berichten.
Die Gründerzeit
Nach dem Jahre 1870 hielt es meine Mutter für vorteilhaft, ein Schwein zu mästen und schlachten zu lassen. Als Tochter eines Fleischermeisters verstand sie die Bearbeitung und Behandlung des Fleisches und die Wurstbereitung vortrefflich. Im Keller hatten wir eine Räucherkammer. Oft mußte ich abends hinuntergehen, um Esswaren für das Abendbrot zu holen. Da bin ich bei dem vielfältigen Reichtum, der da an der Decke hing, zuweilen in Verlegenheit geraten, was ich wählen sollte. Alles war in Hülle und Fülle da. In einem anderen Teil des Kellers lagen große Haufen von Kartoffeln, und standen Fässer mit eingemachtem Gemüse. In einer Bodenkammer aber wurden auf einer schwebenden Platte, für Mäuse unerreichbar, andere Vorräte aufbewahrt, denen die Kellerluft nicht zuträglich war. Ja es war eine Zeit des Glückes, des Segens und der Fülle. Wie oft habe ich in den Nöten der schweren Kriegszeit an diese Zustände im Hause meiner Eltern gedacht!
Die siebziger Jahre brachten auch unserer Gegend einen mächtigen Aufschwung. Auf der Zeche wurde viel gebaut, und die Zahl der Arbeiter vermehrte sich stark. Aus vielen, oft weit entfernten Ländern kam Zuzug. Nicht weit von unserem Hause taufte der Harpener Verein einen neuen Schacht Amalie ab. Vom Bahnhof Langendreer über die beiden Schächte der Zeche Heinrich Gustav und bis zu diesem neuen Schacht wurde für den Transport der Kohle eine normalspurige Eisenbahn gebaut. Auch die rheinische Bahn erhielt ein Anschlussgleis. So konnte die alte, mit Pferden betriebene schmalspurige Schleppbahn aus den sechziger Jahren in den Ruhestand treten. Sie diente uns aber noch als Zugang zum Bahnhof. An die Stelle der alten Koksöfen auf den Zechen traten nun neue, bei denen auch die Nebenerzeugnisse zur Verwertung aufgefangen wurden. Moderne Kohlenwäschen ersetzten die veralteten aus den sechziger Jahren. Viele Maschinen zum Fördern der Kohlen und zur Wasserhebung, die sich dem stärkeren Betriebe gegenüber und bei der tieferen Abteufung der Schächte als zu schwach erwiesen, wurden abgebaut und durch neue, leistungsfähigere ersetzt. Es kam die berüchtigte Gründerzeit, die manchen hoch emporgehoben, andere aber an den Bettelstab gebracht hat, die Zeit, wo überall neue industrielle Anlagen aus der Erde wuchsen. Alles drängte sich herbei, von dem Segen einzuheimsen, der aus Himmelsräumen, wie die Menschen wähnten, auf die Erde herniederträufelte. Alle Welt hatte damals Geld. Ich erinnere mich, daß bei einer Geselligkeit des Vereins am Bahnhof, dem mein Vater angehörte, der Sekt in breiten und tiefen Strömen floß. Auch mein Vater verdiente damit Geld, daß er Wohnhäuser und Fabriken für Private und Gemeinden entwarf. Dabei konnte ich ihm schon helfen und meine Lust am Zeichnen befriedigen. Meine Neigung zur mittelalterlichen Kunst erwuchs erst später aus den Eindrücken, die alte Bauten in den nahen westfälischen Städten und Dörfern in mir wachriefen, in erster Linie die Kirchen aus alter Zeit. Diese Bauten standen alle noch fast unberührt, während die in denselben Jahrhunderten errichteten Wohnhäuser längst von der Erde verschwunden waren. Auch Burgen gab es in meiner engeren Heimat, aber sie lagen in Trümmern.
Im Jahre 1873 kam der große Krach auf dem Gebiete der Industrie. Aber nicht lange, dann begann die Erholung. Diesmal nahm die Entwicklung und der Aufstieg einen langsameren, aber stetigeren Verlauf.
Als Baueleve in Düsseldorf
Als ich mich im Jahre 1876 dem Studium des höheren Baufaches widmete, bestand für die Studierenden noch die Einrichtung des Bauelevenjahres. Mein Onkel Bernau, Architekt in Düsseldorf, verwandte sich bei der Regierung, und so kam es, daß der bei der Regierung tätige Landbauinspektor Tiemann meine Ausbildung für das Elevenjahr übernahm. Ich zog nach Düsseldorf in die Familie meines Onkels und arbeitete damals in einem alten Jesuiten- oder Dominikanerkloster an der Bolkerstraße unter Anleitung Tiemanns.
Dieser beschäftigte mich damit, seine Entwürfe ins Reine zu übertragen. Beim Zeichnen der an einer Nebenstraße liegenden Fassaden der Kunstakademie habe ich meine ersten 50 Mark verdient. Auch die Wohnung des Regierungspräsidenten habe ich aufgenommen. Dann trug ich nach Tiemanns Aufnahme im Kriege die romanische Kirche zu Rosheim im Elsaß auf, ein Bauwerk, das ich später einmal von Strassbug aus besucht habe.
Das Waisenhaus in Steele besitzt im Dorfe Henrichenburg nördlich von Kastrop ein Gut nebst Wassermühle im Tal der Emscher. Herr Tiemann erhielt den Auftrag, die Mühle mit leistungsfähigeren eisernen Rädern zu versehen. Die Mühle mußte aufgenommen werden, und gleichzeitig war ein Nivellement des Emscherbaches vom Mühlenteich bis zum Dorf anzufertigen. Herr Tiemann nahm mich mit nach Henrichenburg und gab mir dort Anweisungen. Dann reichste er wieder nach Düsseldorf zurück. Ich beschäftigte mich nun mit meiner Aufgabe etwa acht Tage lang, erfreute mich mit einer vortrefflichen Verpflegung im Wirtshause des Ortes und unterhielt mich abends am Stammtisch mit dem Gutspächter und den beiden katholischen Ortsgeistlichen. Auf der Rückkehr nach Düsseldorf besuchte ich meine etwa 10 Kilometer südlich von Henrichenburg liegende Heimat.
Als ich in Düsseldorf im Begriff war, unter Tiemanns Leitung an die Aufmessung und Darstellung der reichen Kirche St. Quirin zu Neuß nicht weit von Düsseldorf zu gehen, an eine Aufgabe, die zweifellos damals für mich viel zu schwer war, wurde die Einrichtung des Bauelevenjahres aufgehoben. Nun hielt mich nichts mehr in Düsseldorf.
Meinen alten ersten Lehrer im edlen Baufach Tiemann sah ich später wieder, als ich in das Ministerium der öffentlichen Arbeiten eintrat, denn damals war er bei dieser Behörde als Baurat angestellt, und sonderbar, die erste Zeichnung, die ich bei meiner Vorstellung im Ministerium sah, war die von mir in Düsseldorf gezeichnete Fassade des palastähnlichen Gebäudes, in dem der Regierungspräsident wohnte. Als ich in Bremen Dombaumeister war, habe ich auch den alten Geheimrat Tiemann in Berlin einmal besucht und ihn in einer Dombauangelegenheit um seinen Rat gebeten. Damals handelte es sich um die Verankerung des Vierungsturmes.
Die Berliner Zeit
Das Studium
Im Herbst 1876 reiste ich nach Berlin, um an der Bauakademie, wo berühmte Lehrer wirkten, das Hochbaufach zu studieren. Bisher hatten alle, die sich der Baukunst widmeten, Hochbau und Tiefbau studiert. Das war nun anders geworden. Man studierte entweder Hochbau oder Tiefbau, je nach Veranlagung und Neigung. Die Anfangsgründe hörten beide Arten von Studierenden gemeinschaftlich, dann aber trat die Trennung ein.
Ich bezog in Berlin ein kleines, vier Treppen hoch gelegenes Zimmer bei einem älteren Ehepaar, Buckowerstraße 4. Dafür bezahlte ich mit Morgenkaffee 14 Mark für den Monat. Bis zur Bauakademie, dem schönen Bau Schinkels, hatte ich etwa 20 Minuten zu gehen.
Einen tiefen Eindruck machte mir, dem meist auf dem Lande aufgewachsenen Jüngling, der bis dahin nur wenige kleine und mittelgroße Städte gesehen und näher kennen gelernt hatte, die Kaiserstadt Berlin. Bald fand ich mich, darin meiner Mutter gleich, im Treiben der Großstadt und in den neuen Verhältnissen zurecht. Dazu trug auch der Umstand bei, daß mehrere meiner ehemaligen Schulgenossen in Berlin studierten. Mein erster Gang war zur Bauakademie. Als ich in das Zimmer kam, wo die Einschreibungen erfolgten, traf ich zu meiner größten Überraschung und Freude meinen Freund Pietig aus Mülheim, der gekommen war, um Tiefbau zu studieren. Auch mein Freund Berghaus traf damals, um sich dem Studium des Tiefbaus zu widmen, in Berlin ein. Bald sah ich auch Haas wieder. Er hatte sich dem Bergfach zugewandt. So stand ich in der fremden Stadt nicht allein, denn mit meinen Freunden war ein Stück meiner Heimat nach Berlin gekommen, das ich jederzeit und leicht erreichen konnte.
Mit Eifer und Freude gab ich mich dem Studium hin. Die erste Vorlesung hörte ich bei dem jüngeren Strack über antike Baukunst. Als diese vorüber war, fühlte ich, daß ich an der Schwelle einer neuen Entwicklungsperiode stand, daß sich mir eine Pforte geöffnet hatte, durch die ich einen Blick in eine neue, schöne Welt warf. Frohen Mutes sah ich in das Leben und voll Zuversicht in die Zukunft. Ich fühlte, jetzt kam eine Zeit des Lernen und des Aufnehmens, in der ich die Grundmauern für das Gebäude meines Lebensberufes bauen sollte. Froh ging ich nach dieser ersten Vorlesung in den Tiergarten. Da wurde ich mir ganz meiner Würde als Studierender der königlichen Bauakademie der Haupt- und Residenzstadt Berlin bewußt.
In den Zeichensälen schloß ich mich bald an andere Studierende an, so daß der Kreis meiner Bekannten sich erweiterte. Ich aß lange nicht weit von der Akademie bei Kistenmacher in der Jüdenstraße. Da gab es ein gutes und reichliches Mittagessen für 75 Pfennige. Ein einziges Mal ging ich in ein Massenspeiselokal, in die akademischen Bierhallen. Da fand ich in den saueren Linsen einen kurzen Bleistift, den wohl ein Kellner hinter dem Ohr getragen und verloren hatte. Diese Hallen sahen mich niemals wieder. Was ich abends zu Hause aß, kaufte ich mir auf dem Heimwege in der Stadt, und zu Hause kochte ich mir auch Kaffee und Kako. Ab und zu versorgte mich auch meine Mutter mit Esswaren. Besonders rundlich und reichhaltig fiel die Gabe aus, wenn zu Hause ein Schwein geschlachtet war. Wie dankbar und froh war ich, wenn eine solche Sendung aus dem Elternhause kam. In den großen Ferien, ein paar Mal auch zum Weihnachtsfest, fuhr ich mit Studiengenossen nach Westfalen, selbstverständlich in der vierten Wagenklasse. Sämtliche achte Semester meiner Studienzeit verlebte ich in Berlin, in derselben Wohnung. Mit dem Mittagstisch habe ich allerdings oft gewechselt.
Gab es außerhalb der Bauakademie eine nicht kostspielige Gelegenheit zu lernen, dann habe ich sie ergriffen. Wie oft ging ich allein oder mit Freunden in Museen, in die Nationalgalerie oder in Ausstellungen. Auch bei dem berühmten Professor Dubois Reymond von der Universität habe ich Vorlesungen gehört.
In der Nationalgalerie ging ich einmal in einem der kleinen Nebenräume von Bild zu Bild, ohne viel auf andere Besucher zu achten. Da kamen in dasselbe Kabinett ein paar Besucher, unter ihnen ein großer älterer Herr in Uniform. Als ich diesen näher ansah, erschrak ich: der alte Kaiser! Er ließ sich vor dem Bilde der Schlacht bei Königgrätz einen Vortrag halten, betrachtete das Bild lächelnd, als flöge eine Erinnerung durch seine Seele, sprach einige Worte zu dem Vortrag haltenden Herrn und ging wieder davon.
Mehrmals fuhr ich nach Potsdam, ein paar Mal nach Tegel zum Schloß und den Gräbern der Familie Humboldt, einmal mit Studiengenossen nach Freienwalde. Oft gingen wir nach Treptow und zum Eierhäuschen, in die Hasenheide, die meiner Wohnung so nahe lag, zuweilen auch nach Charlottenburg und in den Grunewald.
Von den Lehrern der Akademie habe ich die folgenden in lebendigster Erinnerung:
Professor Pohlke lehrte darstellende Geometrie und Perspektive. In einem Vortrage versagten seine Kräfte. Bald darauf starb er. Sein Nachfolger wurde der ewig heitere Professor Hauck.
Bei dem Professor Aronhold hörten wir Vorträge über höhere Mathematik. Warum wir mit dieser Wissenschaft geplagt wurden, und was ihre Kenntnis uns Architekten genützt hat, das habe ich bis heute noch nicht ergründen können. Die schöne Zeit, die wir der Mathematik widmen mußten, hätten wir besser verwenden können. Aronholds Vorträge waren interessant, doch brachte mich die Aussicht, dereinst in dieser edlen Wissenschaft geprüft zu werden, um einen erheblichen Teil des Genusses. Auch Aronhold starb, als ich studierte.
Professor Schwatlo mit einer gewaltigen, leuchtenden Glatze, die wir bewundern konnten, wenn er sich umwandte, um an der Tafel zu zeichnen. War es im Auditorium nicht ganz hell, dann warf diese Glatze wie der Vollmond bis in die fernsten Winkel ihren milden Schein. Er führte uns Baukonstruktionen vor, von ihm lernten wir besonders die Geheimnisse der Steinverbände.
Professor Dobbert. Er lehrte Kunstgeschichte. Vor dem Vortrage, der unmittelbar nach unserem Mittagessen vom Stapel lief, hatte er immer ausgiebig gefrühstückt.
Professor Scholz. Dieser gab sich alle erdenkliche Mühe, uns in trockenen, einschläfernden Ausführungen mit Bausteinen und den Geheimnissen und Tücken der Heizungen bekannt zu machen. Um Verwechselungen mit anderen Scholzen vorzubeugen, nannte man ihn den Heiz-Scholz.
Professor Kühn, im Hauptamt Baurat in irgend einem Ministerium. Dieser Beamte sollte uns seine Kenntnisse in der landwirtschaftlichen Baukunde übermitteln, hatte aber gewiß bis dahin noch keinen Stall gebaut. Außerdem versuchten wir bei ihm kleinere Bauten zu entwerfen, deren Fassaden er mit gemalten Bäumen einer mit völlig unbekannten Art verschönerte. Den Pinsel hatte er dabei mehr in dem schlürfenden, die überflüssige Farbe aufsaugenden Munde, als auf dem Papier. Er war ein Verwandter des Kultusministers Falk und auf der Leiter des Beamtentums sehr schnell emporgestiegen. Im Hinblick darauf übersetzten böse Lästerzungen den Satz „Fortes fortuna adjuvat“ so: „Kühne muß man sein, wenn man schnell aufsteigen will.“
Professor Weingarten versuchte uns die dunklen Tiefen der Statik der Baukonstruktionen zu erhellen.
Brandt machte uns mit Eisenkonstruktionen bekannt, von denen viele damals in Berlin dazu dienen mußten, architektonische Lügen zu unterstützen. Oft wies er darauf hin, wie eingebrochen wird, und wie man sich am besten gegen die Anschläge der Herren Spitzbuben schützt. Die geriebensten Diebe Berlins hätten von ihm noch lernen können. Für sie wäre gewiß die Mitteilung der ersonnenen Abwehr- und Verhütungsmaßnahmen von besonderem Wert gewesen.
Der Baumeister Elis behandelte mittelalterliche Baukunst nach seiner Weise. Bei ihm profitierten wir nicht viel. In den Zeichenübungen schlossen wir uns ängstlich an alte Vorbilder an. Sein Assistent war ein Baurat Genick (gesprochen Gehnick). Als dieser sich einst an mein Reißbrett gesetzt hatte und eine Frage, die ich an ihn richtete, nicht beantworten konnte, sagte er in Bonner Mundart: „Ja dat weiß Gott, wie die ollen Kunden dat gemacht haben.“ Und Elis kam und half. Diesen Baurat Genick traf ich viel später während einer Studienreise in der schönen Stadt Viterbo in Italien wieder, wo er sich mit dem Maler Klose aus Karlsruhe aufhielt. Da begrüßte ich ihn.
Professor Schäfer trug ebenfalls über mittelalterliche Baukunst vor. Er war ein vortrefflicher Lehrer, der eine für die Kunst begeisterte und ihn verehrende Schülerschaar um sich sammelte. Geschickt zeichnete er auch an der Tafel. Im Leben soll er unzuverlässig und bummelig gewesen sein. Als ich einmal von Wiesbaden aus den schönen Ort Kiedrich bei Eltville aufsuchte, kam ich auch in das Wirtshaus bei der Kirche. Da hatte Schäfer mehrmals gewohnt. Der Wirt erzählte mir wahre Wunder von seiner Rauchkunst Trunkfestigkeit.
Bei dem Professor Ende entwarf man Monumentalbauten. Seine Zeichensäle waren überfüllt, denn die Zahl der Studierenden war in jenen Jahren recht groß. Ende hatte eine Kohorte von Assistenten. Manche Studierende verstanden es meisterlich, diese ungebührlich lange in Anspruch zu nehmen und an ihr Reißbrett zu fesseln. Nur ein einziges Mal kam er zu mir in höchsteigener Person. Da sah er auf meine Zeichnung, tat den Mund auf und sagte: „Mit den Profilen liegt’s noch sehr im Argen.“ Dann ging er weiter. Es schien ihm sich nicht zu lohnen, mir Zeit zu widmen. Bald darauf beschwerten wir uns über die Art des Unterrichts. Bei Ende und vor allem bei seinen Assistenten lag’s im Argen, mehr als bei uns. Im Entwerfen aus dem Stegreif schenkte er mir einmal ein Bild mit der Widmung: „für die beste Lösung der Stegreifaufgabe.“ Dieses Bild war die Photographie eines sehr wenig phantasievollen Fenstergitters irgend einer von ihm gebauten Bank.
Professor Otzen, etwa 1878 seine Lehrtätigkeit begann, habe ich nicht gehört. Seine kleinlichen Architekturen behagten mir nicht.
Professor Dietrich lehrte die Elemente des Tiefbaues in Vorlesungen, die Architekten und Ingenieure hörten. Doergens unterrichtete im Feldmessen und Nivellieren. In seinem einleitenden Vortrage verblüffte er uns durch eine große Menge auswendig gelernter Zahlen und Maaße.
Professor Weber, ein zappeliges Männchen, sprach über Mineralogie und andere kurzweilige Dinge. Er war sehr freundlich und im Examen hilfsbereit, wenn er bei einem Prüflinge auf eine schwache Stelle faßte. In einem solchen Falle ergriff er einmal aus einer Sammlung ein Handstück, bewegte es auf und ab, als prüfe er sein Gewicht, und fragte dann: „Ich habe hier einen sehr schweren Stein, was ist das für ein Spath?“ Der Befragte antwortete natürlich: „Schwerspath“ und erntete dafür aus Webers Munde die Bemerkung: „Sehr richtig! na ich sehe ja, Sie wissen Bescheid.“ „Steinraten“ nannten wir die Prüfung in der Mineralogie.
Professor Hörmann sprach über Technologie und Maschinenkunde und Professor Rüdroff lehrte Chemie. Sogar die geheimnisvolle Wirkung der Rasierseife auf struppige Bärte erklärte er uns. Jedesmal, wenn ich mich selbst rasiere, denke ich an ihn, denn er hat uns gelehrt, man dürfe beim Schaumschlagen mit dem Wasser nicht zu sparsam sein.
Die größte Verehrung widmete ich dem Professor Jakobsthal. Bei ihm habe ich ein paar Jahre lang Ornamente entworfen, gezeichnet und gemalt. Glückliche Stunden verlebten wir in seinen stillen Zeichenstunden im roten Schloß an der Stechbahn nahe dem königlichen Schloß und der Bauakademie. Jakobsthal war ein vortrefflicher Lehrer, der uns Sinn und Gefühl für das Schöne einzuflößen verstand. Als Schulmeister pflegte er sich zuweilen selbst zu bezeichnen.
In die Formenwelt der antiken Baukunst führte uns der Professor Spielberg ein. Bei ihm zeichneten wir einen griechischen Tempel nach dem anderen. Damit vertrödelten wir viel kostbare Zeit, die wir für bessere Dinge hätten verwenden können. Auch farbige Ausschmückung lehrte Spielberg. Die lernte ich aber viel besser bei Jakobsthal.
In jenen Jahren begann auch Professor Raschdorff seine Lehrtätigkeit an der Bauakademie. Ich habe seine Übungen im Entwerfen monumentaler Bauten aber nicht besucht.
Geschichte der Baukunst hörten wir bei dem Professor Adler. Dieser Mann hatte einen lichtvollen Vortrag, der uns alles, was er berührte, zur lebendigsten Anschauung brachte. Seinen Stoff beherrschte er vollkommen. Außerdem war er weit gereist und hatte eine große Anzahl von Baudenkmälern gesehen und gezeichnet. An der Tafel zeichnete er recht gut. Er war als Examinator gefürchtet, weil er den Prüflingen scharf auf den Zahn zu fühlen pflegte. Welche Rolle Adler später in meinem Leben gespielt hat, davon wird noch die Rede sein. Daß mir zwei schöne und große Arbeiten, die Wiederherstellungen der Dome in Schleswig und Bremen, zugefallen sind, habe ich ihm zu verdanken.
Noch möchte ich den Maler P. Graeb nennen, bei dem wir aquarellierten. Sein Vorgänger war der Landschaftsmaler Biermann, ein hageres, völlig eingetrocknetes Männchen, stets im schwarzen Gehrock. Immer hing ihm ein Tropfen an der Nase, der wunderbarer Weise nie abfiel.
Während meiner Studienjahre starb der berühmte Akademieprofessor Strack, zum Unter-schiede zu seinem Neffen der alte Strack genannt. Auch der Direktor Professor Luä, der Erbauer des Frankfurter Opernhauses, starb in jener Zeit.
Ich wurde Mitglied des akademischen Vereins Motiv. Wöchentlich einmal versammelten sich die Motiver in einem Saal zu anregender, geselliger Unterhaltung. Auch schöne Feste mit Reden, Vorstellungen, Vorträgen und Tanz feierte das Motiv.
Welche Freude erfüllte mich, wen ich beim Beginn der großen Ferien im Sommer mit meinen Genossen in die Heimat fuhr, wenn ich dann zu Hause auf schmalen Pfaden zwischen wogenden Getreidefeldern ging, die blauen Höhen wiedersah, die mir so vertraut waren, die Plätze meiner Jugendspiele wieder aufsuchte, in den Wäldern und Hainen die alten, wohl bekannten Bäume rauschen hörte, wenn ich Werne und Harpen wieder sehen und in die weitere Umgebung, in das Tal der blauen Ruhr schweifen konnte. Den alten Kirchen meiner Heimat mit ihren Kunstschätzen brachte ich jetzt viel mehr Verständnis entgegen. In ihnen habe ich damals viel gezeichnet. Ich nahm in Dortmund die Marienkirche und das alte Betpult in der Reinoldikirche auf und in der etwa sechs Kilometer nördlich von uns gelegenen Stadt Kastrop das Portal der alten Kirche. Auch im Münster zu Essen habe ich viel gezeichnet. Die Kirche in dem Dorfe Methler bei Kourl nicht weit von Dortmund habe ich ihrer mittelalterlichen Malereien wegen besucht. Selbstverständlich machte ich auch, nun mit mehr Verständnis auch für das Kleine, Unbedeutende ausgerüstet, der lieben alten Kirche in Harpen zuweilen einen Besuch.
Als Studierender war ich auch ein paar Tage in Jena und Erfurt, die Verwandten meiner Mutter zu besuchen. Mit meinem Onkel Michael sah ich die schöne Umgebung der Stadt Jena, das Schlachtfeld vom Jahre 1806, den Fuchtsturm, die Kunitzburg, den Fürstenbrunnen, das Bierdorf Lichtenhain und andere Orte. In Erfurt widmete ich meine Aufmerksamkeit in erster Linie dem Dom, der mir einen gewaltigen Eindruck machte.
In den Ferien saß ich einmal an einem Morgen mit meiner Mutter am Kaffeetisch. Da ertönte ein donnerndes Geräusch, als habe sich irgendwo ein schwerer Einsturz ereignet. Gleichzeitig bebte die Erde so stark, daß die Bilder an der Wand wackelten. Da hielt meine Mutter, die grade im Begriff war, die Tasse zum Munde zu führen, auf halbem Wege inne und sagte: „Um Gottes willen, in der Grube ist ein Unglück geschehen.“ Nachher stellte sich heraus, daß wir das große Erdbeben erlebt hatten, das damals einen Teil von Westfalen und das ganze Rheinland erschreckte.
In Berlin war ich im Jahre 1878 Zeuge der gewaltigen Erschütterung des Volkes durch die beiden Mordversuche auf unseren verehrten alten Kaiser (11. Mai und 2. Juni 1878). Als der alte Herr nach dem zweiten (Nobilingschen) Mordversuch von einer längeren Erholungs¬reise nach Berlin zurückkehrte, brachte ihm die akademische Jugend einen großartigen Fackelzug, den ich mitmachte. Wir hatten leider die Pechfackeln zu früh angezündet und mußten so noch etwa zehn Minuten stehen. Da haben Hitze und Ruß uns arg zugesetzt. Es war eine Erlösung, als wir uns endlich in Bewegung setzen konnten. Auf dem Dönhofplatz wurden die Fackeln zusammengeworfen.
Als im Jahre 1879 die Zeit der goldenen Hochzeit des Kaiserpaares herannahte, schrieben die Ausschüsse der Studierenden der Bauakademie und der Gewerbeakademie einen Wettbe¬werb unter den Studierenden zu einer künstlerisch auszuführenden Adresse an die Majestäten aus. Das Amt der Preisrichter hatten Professoren beider Akademien übernommen. Auch ich setzte mich hin und machte einen Entwurf. Der Tag der Entscheidung kam. Ich ging nicht in den Saal der Bauakademie, in dem die Entwürfe ausgestellt waren, denn ich hatte nicht die geringste Hoffnung. Da kam mein Dortmunder Freund Hiller zu mir sagte: „Ehrhardt, Du hast den ersten Preis.“ So war es auch, und ich erhielt bald den Auftrag, die Adresse auszuführen. Das geschah unter der Aufsicht des Professors Luthmer, der mir aber nur im Anfang ein paar Hinweise gab. Die Ausführung der Schrift übernahm ein in solchen Dingen geübter und erfahrener Künstler, der sie aber doch nicht ohne störende Radierungen zustande brachte. Die Adresse wurde dem Kaiserpaar überreicht und dann dem Hohenzollern¬museum überwiesen, wo sie mit vielen anderen nun still verstaubt und vermodert. Vor der Ablieferung konnte ich sie meinem Vater zeigen, der zu derselben Zeit die Gewerbeausstellung in Berlin besuchte.
Während meiner Studienzeit starb in Berlin der alte Papa Wrangel. Ich sah, wie sein Sarg zum Stettiner Bahnhof gebracht wurde. Von einem der Säe des roten Schlosses war ich auch einen Blick auf den Sarg des Kriegsministers Roon.
Theater habe ich nicht viel besuchen können, denn dazu reichten meine Geldmittel nicht aus. Im Schauspielhause habe ich aber einmal Theodor Döring und die Frieb-Blumenauer in Nathan dem Weisen gesehen und im Wallnertheater Helmerding und Ernestine Wegener.
Die Studienzeit wurde mir durch schmerzhafte Entzündungen der Speicheldrüsen oft getrübt. Überfielen sie mich, dann konnte ich kaum den Mund öffnen. Dieses Übel war eine Folge der Eiterung der Wunde an meinem linken Oberschenkel. Ich habe diese Plage mit Mut überstanden und mich von ihr in meinen Studien nicht stören lassen, denn ich hatte die Hoffnung, daß sie einmal schwinden würde. Und diese Hoffnung hat sich in späteren Jahren auch erfüllt.
Mein Studium schloß das erste Staatsexamen ab. Ich habe es gefürchtet, weil ich mich in den mathematischen Fächern schwach fühlte, auch wirklich schwach war. Doch mit Ergebung in mein Geschick ging ich zur Prüfung. Wir Kandidaten mußten dazu im Frack, mit weißer Binde und weißen Handschuhen erscheinen. Der Frack wurde natürlich in einem Kleidergeschäft geliehen, weil keiner von uns in diesen jugendlichen Jahren ein solches feierliches Kleidungsstück besaß. Wir mögen in diesen geliehenen Fräcken wohl einen wunderlichen Anblick geboten haben.
Über die gefürchteten Klippen der Mathematik half mir ein gütiger aller Herr, der Examinator Professor Paalzow, hinweg. Sein Andenken sei gesegnet. Begegne ich ihm dereinst in seligen Gefilden, dann will ich ihm noch einmal in dankbarer Erinnerung seine hülfreiche Hand drücken. Er bemerkt wohl bald meine Schwäche, setzte sich neben mich und half, indem er mir die Lösung der letzten Aufgabe in die Feder diktierte und darauf achtete, daß ich nicht abirrte. Dabei zog er zuweilen eine braune Tüte mit Schnupftabak aus der Tasche und nahm eine Prise, und die Tabakkörner fielen mir aufs Papier. Als diese Mathematikstunde vorüber war, wußte ich, daß eine gefahrdrohende Klippe glücklich umschifft war.
Ich bestand das Examen und wurde im Februar 1871 zum Bauführer ernannt. Ich blieb darauf noch einige Wochen in Berlin, denn der Professor Jakobsthal beschäftigte mich nach der Prüfung auf seinem Atelier in Charlottenburg. Er arbeitete damals an den Entwürfen für das neue Emfpangsgebäude des Bahnhofs in Straßburg i[m] E[lsaß]. Aber mich zog es hinaus in die Ferne. In Berlin hatte ich mich nun lange genug aufgehalten. Es verlangte mich danach, die praktische Bautätigkeit kennen zu lernen. Jakobsthal empfahl mich der Verwaltung der Reichsbahnen in Elsaß-Lothringen, die grade einiger Bauführer bedurfte, und diese nahm mich an.
Eisenbahnbau im Elsass und in Lothringen
Ich reiste nach Straßburg, meldete mich dort im März 1881 und trat meinen Dienst auf dem bautechnischen Bureau der Direktion an, das an der Steinstraße lag. Dort beschäftigte man mich zumeist mit dem Entwerfen kleinerer Bauten für die Neubaustrecken. Eine meiner ersten Arbeiten war der Entwurf zum Eilgutschuppen in Straßburg, der auch ausgeführt wurde und vielleicht noch heute steht. (Nachtrag: diesen Schuppen habe ich noch im Juni des Jahres 1931 gesehen.) Als Bauführer verdiente ich Geld, ich konnte mich also von nun an selbst ernähren. Eine Ausnahme machte nur die Zeit, wo ich mich in Berlin auf das zweite Staatsexamen vorbereitete. Ich kam mit Wenigem aus, denn in Berlin schon hatte ich gelernt hauszuhalten und sparsam zu wirtschaften.
Als ich einige Wochen in Straßburg tätig war, kam die Nachricht von der entsetzlichen Ermordung des russischen Kaisers Alexander des Zweiten.
Meinen verehrten Lehrer Jakobsthal sah ich bald in Straßburg wieder. Er trat in mein Zimmer, im Arm einen soeben auf dem Markte gekauften Topf mit einer mit unbekannten, wundervoll blühenden Pflanze tragend. Diese sollte ich ihm in allen erdenklichen Stellungen, vermutlich für eine Sammlung und für Lehrzwecke, genau zeichnen und in Farben malen. Ich habe diesen Auftrag erfüllt so gut ich es vermochte. Die Pflanze war eine ausländische Aroidee, die bei uns selten blüht.
In Straßburg gab es bei der Direktion Beamte aus Nord- und Süddeutschland. Hier lernte ich zum ersten Mal Süddeutsche näher kennen, und ich liebte es, mit ihnen in engeren Verkehr zu treten. Mit Nord- und Süddeutschen habe ich Ausflüge in die Umgebung der Stadt gemacht, auch in die Berge, in den Schwarzwald, nach Baden-Baden und nach Gengenbach, dann in die Vogesen, zur Burg Girbaden, nach Andlau, Rosheim, Obereheheim, Molsheim, Arolsheim und anderen Orten. Einmal habe ich auch Zürich, Luzern und den Rigi besucht. Uns wurden für diese Ausflüge Karten für freie Fahrt in der zweiten Wagenklasse ausgestellt. In der Umgebung der Stadt Straßburg habe ich damals auch gemalt.
Und nun die alte Stadt selbst! Wir haben damals geschwärmt in den engen Gassen und an den Ufern der Ill, haben Blicke getan in malerische Höfe mit ihren schönen hölzernen Galerien. Nicht oft genug konnte ich in das Münster Erwins von Steinbach gehen, mein Auge an seinen äußeren und inneren Herrlichkeiten zu ergötzen. Mehrmals bin ich auch zur Plattform hinaufgestiegen, auf die graurote Stadt zu blicken mit ihren vielen Schornsteinen und Storchnestern, in die weite Rheinebene und zu den blauen Gebirgen. Ich wohnte bei einer altdeutschen Beamtenfamilie nicht weit vom neuen Bahnhof und aß in der Fleur d’Or an der Kronenburger Straße, wo der Wirt, der ehrenwerte, aber beschränkte Herr Thouvenelle, und seine kleine zierliche Frau „Madämchen“, wie wir sie nannten, uns bestens verpflegten. Am meisten freute ich mich immer auf den Nachtisch, herrliches Weißbrot mit Butter und Bier- oder Münsterkäse. Abends saßen wir meistens bei der dicken Anna oder im Luxhof, zwei Schankstätten, wo Münchener Bier verzapft wurde. Um zehn Uhr zogen die langsamen, feierlichen Töne der Betglocke des Münsters über die alte deutsche Stadt.
Mehr als drei Monate blieb ich in Straßburg, da eröffnete mir unser höchster Vorgesetzter, der Oberregierungsrat Funke, er wolle mich nun mit praktischer Bauführung beschäftigen und mich auf die Neubaustrecke Teterchen – Diedenhofen senden. Ende Juli 1881 fuhr ich nach Metz, um mich bei dem Bauinspektor Schröder zu melden und dann meinen künftigen Wohnort Busendorf an der Nied in Lothringen, an der im Bau begriffenen Baulinie gelegen, aufzusuchen. Ein anderer Bauführer war mein Reisegenosse bis Metz. Dort haben wir wohl etwas zu stark gefrühstückt, denn ich verfuhr mich und kam nicht nach Teterchen, sondern in das elende Dorf Lauterfingen. Vier Stunden mußte ich hier auf einen entgegenkommenden Zug warten. Entsetzliche Stunden! Ich besah mir die völlig reizlose Gegend und hockte dann trübselig in dem ärmlichen Dorfwirtshause. Da muß ich wohl das Mitleid der Wirtsleute erregt haben, denn als sie sich in der Gaststube zum Mittagessen niedersetzten, forderten sie mich freundlich auf, an ihrem Mahl Teil zu nehmen. Dem konnte ich nicht widerstehen. Es gab Sauerkohl, wie so oft in Lothringen. Endlich kam das Ende dieser Irrfahrt und die Erlösung. Glücklich erreichte ich Teterchen (dieser Ortsname bedeutet: Dietrichsheim) und hier stieg ich in den nach Busendorf fahrenden, dörflichen Postwagen. Es war meist kein besonderes Vergnügen, mit ihm zu fahren, besonders nicht im Winter, wenn seine Fenster dicht geschlossen waren, und die männlichen Insassen ihren kurzen Pfeifen gewaltige Rauchwolken entlockten.
Die kleine Stadt Busendorf, von den Franzosen Bouzonville genannt, liegt etwa 8 Kilometer von Teterchen entfernt an der Nied, in freundlicher, hügeliger Gegend. Hier mietete ich ein Zimmer bei einer bejahrten Witwe, Frau Statu, die sich etwa ein Dutzend Katzen hielt. Meine Geschäfte wickelte ich in dem Amts- und Arbeitszimmer des Ingenieurs Groß ab, des örtlichen Bauleiters der Ingenieurbauten, eines Pfälzers, der mit seiner Frau und zwei noch sehr jugendlichen Töchtern das obere Geschoß bewohnte. Ich war mit der Leitung der Bahnhofsbauten in Teterchen, Brettnach, Busendorf und Freisdorf beauftragt. Schnell fand ich mich in meine neue Tätigkeit. Die Wege nach Freisdorf und über Brettnach nach Teterchen machte ich meistens zu Fuß. Später, als schon Gleise lagen, benutzte ich oft die Dräsine, dann Kieszüge. Das Mittag- und das Abendessen nahm ich im Gasthof Moll ein, wo Marie, die Tochter, sich um mein Wohl sehr verdient machte.
Über die langsam durch das Tal schleichende, lehmige Nied führte bei Busendorf eine alte steinerne Brücke mit einem Heiligenbilde. Die Straße zog weiter den sanften Abhang hinauf. Leidensstationen [der Passion Christi] begleiteten sie. Wo sie die Höhe erreichte, stand seitwärts unter ehrwürdigen alten Linden eine Gruppe mit lebensgroßen Figuren, Christus am Kreuze und die beiden Schächer. Davor Bänke für die Beter bei Prozessionen. Von der Höhe bot sich ein schöner Blick auf die Stadt mit ihren niedrigen Häusern und der alten Kirche, die Bogen der Brücke, auf die sich schlängelnde Nied und weiterhin in das Lothringische Hügelland mit vereinzelten Dörfern. Die Bauart dieser Dörfer ist bekannt. An beiden Seiten der Straße liegen die Reihenhäuser, und vor ihnen stehen in stolzer die Parade die duftenden Düngerhaufen. Der Boden ist fruchtbar, die Felder waren damals stark verunkrautet. Das Vieh erschien mir in jener Gegend erbärmlich. In die Wälder mit ihrem dichten Unterholz kamen im Winter Wölfe aus den Ardennen. Sand- und Kalksteinbrüche in der Nähe und bei Felsberg nicht weit von Saarlouis lieferten die Steine für die Bahnhofsbauten. Weinbau wurde in diesem Teil von Lothringen nicht getrieben. Was wir als Landwein tranken, war ein Erzeugnis von der oberen Mosel.
Die in Busendorf ansässigen deutschen Beamten verkehrten fast gar nicht mit einander. Wir hatten aber Umgang mit den auf die Bahnstrecke verteilten Baubeamten. Ich schloß mich den Eheleuten Groß an, mit denen ich bald befreundet wurde. Als die Frau Statu erkrankte, zog ich in das Haus, in dem die Familie Groß wohnte und nahm an ihren Mahlzeiten Teil. Irgend welche Anregung oder gesellschaftliche Unterhaltung bot das kleine Busendorf, in dem annähernd zweitausend Menschen wohnten, nicht. Wir fuhren daher zuweilen auf die Dörfer, in denen wir einer guten Verpflegung gewiß waren, mitunter aber auch weiter, mit dem Wagen nach Saarlouis oder mit der Bahn nach Metz.
Ich war gern in dem Dorfe Gelmingen. Da stand unter hohen Bäumen eine Kreuzigungs-gruppe, und auf dem Friedhof war ein Beinhaus mit Hunderten grinsender Totenschädel. Nach dem vortrefflichen Mahl erschienen auf dem Tische große Stengel mit Weintrauben, und aus dem Keller brachte der Wirt bestaubte Flaschen alten Burgunderweins.
In einem anderen Dorfe, in Alzingen nahe bei Busendorf, machte ich mit Herrn Groß und seiner Frau einmal eine lothringische Kirchmeß mit. Der Ortsvorsteher hatte uns zum Mittagessen eingeladen. Als Hauptgang erschien auf einer gewaltigen Schüssel ein Turm Sauerkraut, dessen Fuß ein gebratenes Karnickel umschlang. Ein steinaltes Mütterchen, das keinen Laut von sich gab, hockte am Ofen, in Tücher ganz eingehüllt. So dicht war die Alte eingewickelt, daß ich nicht einmal die Züge ihres Gesichts erkennen konnte. Dann ging es in die Scheune, da gab es Federweißen von der Mosel und wurde getanzt. Einer unserer Arbeiter spielte mit der Geige zum Tanz auf. Wenn ich mich recht erinnere, gab’s an dem Abend auch Umarmungen und Küsse. Ein in Teterchen wohnender Beamter war mit seiner Frau in einem Bauernwagen gekommen. Es war schon sehr spät, da luden wir ihn als Opfer des tückischen Federweißen auf den Wagen und deckten ihn warm zu, denn es war Herbst, und ein scharfer Wind wehte. So fuhr das Ehepaar davon. Wir aber blieben noch beim Federweißen und gingen dann aufrecht nach Busendorf zurück.
Einst besuchten wir einen auf der Strecke wohnenden, befreundeten Baubeamten. Durch verschneite Wälder am späten Abend zurückfahrend, hörten wir da das Geheul von Wölfen. In einigen Jahren sollen sie in die Höfe der Häuser in Busendorf gedrungen sein, um Nahrung zu suchen. Von Metz kamen in jene Gegend zuweilen Offiziere, um Treibjagden auf Wölfe und Wildschweine abzuhalten.
Wenn der alte Bauinspektor Schröder aus Metz die Neubaustrecke besichtigte, dann bediente er sich eines Wagens, später der Dräsine. In Teterchen begann gewöhnlich die Schau. Dann ging’s nach Brettnach und weiter nach Busendorf, wo er mit mir bei Moll zu Mittag speiste. In Freisdorf nahm ihn der Baubeamte des anstoßenden Streckenteils in Empfang. Noch vor der Vollendung der Linie wurde er leider zur Direktion nach Straßburg versetzt. Ich war diesem aufrechten Mann von Herzen zugetan.
Als die Hochbauten der Bahnhöfe im Wesentlichen vollendet waren, besuchte uns der Oberregierungsrat Funke von Straßburg. Er schien sich darüber zu freuen, daß ich bei der Ausmalung der Wartesäle frisch und fröhlich mit den Farben ins Zeug gegangen war. In Teterchen hatte ich für die Bauten einen roten Sandstein mit sehr auffälligen hellgrauen Flecken verwenden müssen. Im fertigen Mauerwerk wären diese Flecken sehr störend hervorgetreten. Diese hellen Stellen wurden mit roter Tonerde, die im Bruch zwischen den Steinen lag, angestrichen, und die so behandelten Steine ließ ich an geschützten Stellen, meist unter dem weit vorspringenden Dach, vermauern. So boten die Mauerflächen einen ruhigen Anblick. Blad nach dem Besuche bei uns kam Funke zu einem Gebäude des neuen Bahnhofes in Straßburg, das mit denselben, aber fleckigen Quadern bekleidet war. Funke ärgerte sich über die hellen Flecke und hielt sich heftig darüber auf, daß man bei der Auswahl und Annahme solcher Steine so wenig sorgsam verfahren sei: „Der Bauführer Ehrhardt hat in Teterchen an mehreren Bauten denselben Stein verwandt, und die sehen ganz ruhig aus. Der hat eben die gefleckten Steine nicht angenommen. Der hat’s fertig gebracht, aber hier in Straßburg ist’s angeblich nicht möglich gewesen.“ Diese Geschichte wurde mir später in Straßburg von einem der beteiligten Baumeister wiedererzählt, und als ich da gestand: „Ja ich habe die fleckigen Steine auch vor dem Vermauern anstreichen lassen“, da erhob sich ein wildes Gelächter.
Auf Grund von Bohrungen und Beobachtungen, die Herr Groß angestellt hatte, begann ich auf dem Bahnhof Busendorf neben einem von mir gebauten Wasserturm einen großen Brunnen anzulegen. Nach den Versicherungen des Herrn Groß war an dieser Stelle eine wahre Sündflut an Wasser zu erwarten. Der Brunnen wurde durch Kalkstein abgeteuft, aber es kamen nur wenige Tropfen der ersehnten Flut. Dann wurde der Fels so hart, daß wir zu Sprengmitteln greifen mußten. Ertönte die Trompete des Borhmeisters und Brunnengräbers, dann riß alles aus und suchte Deckung, bis die Explosion erfolgt war. Immer zeigte sich noch kein Wasser. Da behauptete Herr Groß, wir hätten es „weggeschossen“, denn um keinen Preis wollte er eingestehen, daß er sich geirrt hätte. In wissenschaftlichem Betracht stand er auf der Stufe des Karlchen Mießnick vom Kladderadatsch. Wußte er nun auch in Wassersachen wenig Bescheid, so war er doch in Bierangelegenheiten vortrefflich beschlagen. Da hätte er es, seines Sieges gewiß, mit jedem Münchener aufnehmen können.
Der tiefe Brunnen wurde wieder zugeworfen, und unten an der Nied erbaute man später eine Pumpstation, die genug Wasser lieferte.
Kam der Abend, dann holte unser Bureaudiener Priem, der kundige Thebauer, für uns Beide Bier aus einer nahe liegenden Schenke. Um es etwas anzuwärmen, tauchte er in jedes Glas die Spitze eines glühend gemachten Stocheisens. Tat dann Groß den ersten tiefen Schluck, dann legte sich sein Gesicht geradezu in fromme Falten, als steige aus der Tiefe seines Herzens ein Dankgebet zu Gott, der aus reiner Liebe zur durstigen Menschheit Hopfen und Gerste wachsen und gedeihen läßt.
Als die Bauten in Teterchen vollendet waren, gab der Unternehmer den Arbeitern ein Fest, zu dem auch wir eingeladen wurden. Da hielt ich im Güterschuppen, wo getanzt wurde, vor den Musikern auf einer eingebauten Tribüne stehend, eine Rede an das versammelte Volk. Wir übernachteten bei dem in Teterchen wohnenden Baubeamten, dessen Haus im freien Felde stand. In der Nacht stand ich auf, ging im Zimmer umher und trat dabei auf kleine Brocken, die ich für Korinthen oder Rosinen hielt. Als es hell wurde, sah ich, daß durch das offene Fenster ein Bienenschwarm in das Schlafzimmer gedrungen war. Viele zertretene Leichen lagen am Boden. Das Gros hatte sich zu meinem Glück schon durch das Fenster zurückgezogen und das Weite gesucht.
Als in Brettnach Kirmeß war, hatte der findige Kantinenwirt, ein Italiener, zwei ausgediente Güterwagen in ein kleines Wäldchen fahren und miteinander verbinden lassen. So gewann er einen wundervollen Tanzsaal, den er mit Fahnen und grünen Zweigen schmückte und dessen eine Ecke Buffet und Musik einnahm. In diesem Feenpalast haben wir getanzt und uns unserer Jugend gefreut.
In Busendorf hielt sich einige Monate lang ein ehemaliger Beamter der Reichseisenbahnen, der Baumeister Lauber auf. Einer der Unternehmer der Hochbauten hatte ihn angestellt. Ein kleiner, fauler Mann mit vollem Gesicht und Glatze, ein Württemberger, der herzerfrischend schwäbelte. In seinem kleinen Wagen fuhr er von einer Baustelle des Unternehmers zu anderen. Eines Tages im Sommer war freudige Aufregung im Städtchen. Man erwartete den Bischof von Metz, der früher als Pfarrer in Busendorf gewirkt hatte und sehr verehrt worden war. Auf dem Platz vor dem Mollschen Gasthof harrten mehrere hundert Gläubige des Bischofs, der von Teterchen mit dem Wagen kommen sollte. Lange wartete die Menge, der Ersehnte kam nicht. Endlich hörte man von der Ecke des Platzes, da, wo die Straße von Teterchen einmündete, Pferdegetrappel. „Da kommt er, da kommt er!“ Ein Pferdekopf, ein Pferd, ein Wagen bog um die Ecke. Das Volk begann in laute Rufe der Freude und der Begrüßung auszubrechen. Da erkannte ich das lächelnde Vollmondgesicht des Herrn Lauber, der behaglich zurückgelehnt in dem Wagen saß, die Lage sofort zu erfassen schien und, nach allen Seiten sich huldvoll verneigend, für die freundliche Begrüßung mit lächelnder Miene dankte.
Ich verließ Busendorf im Anfang des Jahres 1883, denn ich sollte in Metz die Abrechnungen mit den Unternehmern vollenden. Das Leben in dieser eingeengten Festung hat mir nicht zugesagt. Nicht einmal die nahe gelegenen Schlachtfelder vom Jahre 1870 habe ich besucht. Ich bin aber in Jouy-aux arches gewesen, wo noch die hochragenden Reste der Pfeiler einer römischen Wasserleitung zu sehen sind. Froh war ich, als ich im März nach Straßburg zurückkehren konnte. Wieder trat ich in das bautechnische Bureau der Direktion ein. Ich wohnte an einem Staden (Uferstraße) bei einer alten Dame, einer eingeborenen Straßburgerin, die mir viel von den Schrecken der Belagerung und Beschießung der Stadt im Jahre 1870 erzählte. In die Umgebung Straßburgs habe ich auch bei diesem zweiten Aufenthalt manchen Ausflug gemacht.
In jener Zeit bearbeitete der Landbauinspektor Eggert in Berlin die Pläne zum neuen Bahnhof für Frankfurt am Main und für einen Kaiserpalast in Straßburg. Ihm wurde ich im Juli 1883 für den Kaiserpalast zugeteilt, zunächst nach Berlin. Dann ging’s aber wieder nach Straßburg zurück, wohin Eggert übersiedeln mußte, weil der Bau des Kaiserpalastes bald in Angriff genommen werden sollte. Ich wohnte in dieser Zeit bei einer schweizerischen Familie am Ufer der Ill. Bei Eggert lernte ich zwei Bauführer kennen. Der eine war Menken aus Köln, der andere Schmalz, ein Berliner. Menken erbaute später die Ludwigskirche in Wilmersdorf bei Berlin, und Schmalz das große Landgericht nicht weit vom Berliner Rathause. Beide sind längst gestorben. Menken bewohnte in Straßburg zwei Zimmer, die einst der junge Goethe innegehabt hatte.
Das Zweite Staatsexamen
Im Februar 1884 hatte meine Beschäftigung als Bauführer lange genug gedauert. Da ging ich zu meinen Eltern, denn die Zeit war gekommen, wo ich mich auf das zweite Staatsexamen vorbereiten mußte. Das Elternhaus nahm mich wieder einige Monate liebevoll auf. Nun fing ich an, mich mit der Bearbeitung meiner häuslichen Arbeit, die schon seit ein paar Monaten mir zu Aufgabe gestellt war, mit dem Entwurf zu einem Gesellschaftshause für eine Provinzialstadt, zu beschäftigen. Dazu bedurfte ich aber vielen Beihülfen, die mir zu Hause nicht zu Gebote standen. Ich ging daher nach Berlin, mietete mir in einem Hause an der Teltower Straße ein Zimmer und gab mich der Bearbeitung meiner Aufgabe hin.
Im Juli 1885 legte ich die zweite Staatsprüfung ab. Sie dauerte mehrere Tage. Drei Tage galten der Bearbeitung von kleineren Entwürfen und an einem anderen Tage ging es in die mündliche Prüfung. Alles ging ganz nach meinem Wunsch, denn die verwünschten mathematischen Fächer und die Statik waren ja ausgeschaltet. In dieser Prüfung handelte es sich nur um Hochbaufächer. Als uns Prüflinge das Ergebnis mitgeteilt wurde, war ich freudig überrascht, als der Vorsitzende mit sagte, ich hätte „mit Auszeichnung“ bestanden. Froh ging ich zum Telegraphenamt, um meinen Eltern Nachricht zu geben.
Schleswig I
Nach der Prüfung gab ich mich dem süßen Nichtstun hin. Bald kam auch die Ernennung zum Regierungsbaumeister. Grade war ich ihm Begriff, mich auf einige Tage zur Erholung in den Harz zu begeben, da erhielt ich eine Berufung in das Ministerium der öffentlichen Arbeiten, in die damals meinem Lehrer auf der Bauakademie, dem Professor und Geheimen Oberbaurat Adler unterstellte Abteilung für Kirchenbau. Mit Adler war ich bis dahin noch nicht in persönliche Beziehungen getreten. Nun hatte ich an jedem Tage mit ihm zu tun. Mein einziger Mitarbeiter unter Adler war der Baumeister Dinklage. Dieser bearbeitete damals grade den ersten Entwurf Adlers zum neuen Glockenturm für den Dom in Schleswig. Ich wurde mit der Durchsicht von Entwürfen zu Kirchenbauten in der preußischen Monarchie und den dazugehörigen Kostenanschlägen, zur Aushülfe auch in anderen Abteilungen beschäftigt. Bis zum 1. März 1886 blieb ich im Ministerium, dann sandte mich Adler, in dessen Hause ich auch verkehrt hatte, nach Schleswig, zur weiteren Bearbeitung des oben bezeichneten Entwurfes an Ort und Stelle und zur Anfertigung des Kostenanschlages. Dort wurde ich dem Kreisbauinspektor Hotzen unterstellt.
Schleswig ist eine uralte Stadt, deren drei aneinander gereihte Stadtteile Altstadt, Lollfuß und Friedrichsberg, einen Meeresarm der Ostsee, die Schlei, halbmondförmig umfassen. In den Wellen dieses Gewässers spiegeln sich die Mauern des Domes, der wie ein gewaltiger Klotz aus dem Gewirr der Häuser in der Altstadt aufragt. Lachende Getreidefelder und üppige Laubwälder säumen die wechselvollen Ufer. Dieses Land hat eine reiche Vergangenheit. Nicht weit südlich von der Stadt zieht sich der alte Grenzwall, das Danewerk, von einem Nebenarm der Schlei bis zu den Niederungen des Trieneflusses. Ein Teil dieser festen Grenz-scheide, die Waldemarsmauer, für deren Bau die ersten Ziegelstein im Lande hergestellt wurden, liegt etwa eine Stunde Weges von Schleswig. In ihrer Nähe erkennt man deutlich die Wälle und Gräben eines uralten Erdwerkes, der Tyraburg. Im Dorf Bustorf nahe bei Schleswig steht noch heute auf dem Grabe des Skarthi, eines Waffengefährten des nordischen König Sven, ein Runenstein. Andere Steine dieser Art sind im Park von Luisenlund aufgestellt, am Dom gefunden und bei Bauarbeiten am Schloss Gottorp aus der Erde gehoben.
Im Jahre 1848 fochten bei Schleswig die Preußen unter Wrangel, im Jahre 1864 beim Königshügel am Danewerk die Österreicher unter Gablenz. Am 2. Februar 1864 machten die Preußen, damals Waffengefährten der Österreicher, unter dem Prinzen Friedrich Karl einen Vorstoß gegen die dänischen Schanzen bei Missunde, und vier Tage später, am 6. Februar, überschritten sie die Schlei bei Arnis und Kappeln. Eine Meile südöstlich von Schleswig liegt Eckernförde, bekannt durch das Gefecht am 4. April 1849, von dem in den früheren Mitteilungen schon die Rede gewesen ist.
In der Stadt wohnten, als ich vorübergehend ihr Bürger wurde, viele Beamte, denn hier befanden sich die Regierung und das Oberpräsidium.
Am 1. März 1886 trat ich meinen Dienst in Schleswig an. Die Landschaft war tief verschneit, so daß die Zugverbindungen nach Norden und Süden unterbrochen wurden. Bis zu den Spitzen der Telegraphenstangen hatte an einzelnen Stellen der Wind den Schnee zusammen-geweht. Da kam mir das Brentanosche Gedicht von der aus Schnee erbauten Gottesmauer ins Gedächtnis. Ich ging zum Kreisbauinspektor Hotzen, der in der Nähe des Domes wohnte. Da lernte ich auch gleich seine Frau kennen. Hotzen führte mich durch tiefen Schnee zum Dom, schloß eine Tür des an die Nordseite angebauten Kreuzganges, Schwahl genannt, auf, und unvermutet stand ich im Menschengedränge und zwischen Verkaufsständen, denn es war grade Jahrmarkt in der Stadt, und der Schwahl war den Zwecken des Marktes dienstbar gemacht. Über den zum Verkauf ausgestellten Waren sah man durch die Tünche schimmernd die Linien mittelalterlicher Wandmalereien. Die drei Arme des Schwahls umschlossen mit der Domkirche einen viereckigen Hof mit allerlei malerischen Einbauten und wucherndem Gesträuch. Teile von alten Grabdenkmälern waren an den Wänden aufgerichtet.
In einem kleinen Hause vor der Westmauer des Domes richtete ich mir ein Arbeitszimmer ein, und hier begann ich alsbald meine Tätigkeit. In der Stadt wurde ich bald heimisch. Ich wohnte bei einer alten Dame, Frau Jepsen, am Domziegelhof. Von den Fenstern meiner Zimmer bot sich ein schöner Blick auf die Schlei mit der Möveninsel und auf ein liebliches Hügelland, das der Königshügel überragte. Mittags aß ich im Hotel Stadt Hamburg, wo unter dem Vorsitz des Divisionspfarrers Büttel die unverheirateten Beamten der Regierung speisten.
Die Regierung zu Schleswig
An der Regierung in Schleswig wirkten zu jener Zeit mehrere Räte, die aus Schleswig-Holstein stammten.
Da war zunächst der Regierungsrat Hansen, ehemals, wenn ich mich recht erinnere, Lehrer an einer höheren Töchterschule oder an einem Lehrerinnen¬seminar. Im strengen Winter ging er in einem havelockähnlichen, dünnen Mäntelchen, das ihm kaum bis an den Bauchnabel reichte, und er trug stets eine Mütze mit Schirm, ähnlich denen der dänischen Infanterie. Man nannte ihn, nach dem dänischen Wort gammel = alt, den Gammelhansen, auch wohl den alten Gammel.
Ein anderer war Rathgen, ein großer, dicklicher Mann mit einem kahlen Kopf, der ihm wie eine spiegelglatte, ungeheure Billard¬kugel auf den breiten Schultern saß. Als Jüngling war er, die Freiheitsfahne schwenkend, bei der Erhebung Schleswig-Holsteins gegen das dänische Joch im Jahre 1848 duch die Straßen Schleswigs gezogen. Stets spielte um seine Mundwinkel ein spöttisches, boshaftes Lächeln. Als ihm der Schriftsteller Hermann Heiberg einmal sagte, er wolle ihm in Verehrung und Hochachtung einen seiner Romane schenken, lehnte er das ab, mit dem Bemerken: „von Romanen und ähnlichen schriftstellerischen Erzeugnissen lese ich nur Goethes Wilhelm Meister.“ Im Museum, einer geselligen Vereinigung, zeichnete er sich als vortrefflicher Billardspieler aus, der uns Alle in den Sand streckte.
Dann war da Regierungsrat Petersen, genannt der Schwarze Peter, ein Mann, der geschickt allerlei Figürchen in Ton modellierte und seine Modelle meist unter den Fischern des Holmes suchte, ein Freund von Wilhelm Jensen, Storm und vielen Münchener Künstlern.
Ferner der alte Gage, der fast alle Sätze mit dem veralteten Worte „Item“ begann. In einer Beratung soll er sich einmal einem Bahnbau durch die Schleswig-holsteinische Marsch widersetzt haben, indem er darauf hinwies, daß durch die Züge das Rindvieh auf den Weiden gestört und so verhindert werde, Fett anzusetzen. Seine Frau ging schwerfällig und steif über die Straße. Ihr Rock war einer Glocke ähnlich, und da man ihre Füße kaum sah, so nannte man sie treffend die wandelnde Glocke.
Unterüberschrift
Kaum war ich einige Wochen in Tätigkeit, da wurde einer meiner Studienfreunde, der Regierungsbaumeister Starke, von Altona nach Schleswig versetzt. Er war beim Garnisonbau beschäftigt und sollte beim Schlosse Gottorf Ställe errichten. Bald lernte ich auch seine Frau kennen, eine geborene Kornelius, eine Enkelin des Malers Peter Kornelius. Das Ehepaar blieb nicht lange in Schleswig. Ich bin der Pate der ältesten Tochter Ottilie. Starke ist jetzt Geheimer Baurat in Ballenstedt, im anhaltischen Staatsdienst.
Im Sommer 1886 besuchte mich mein Vater. Von einem größeren Ausfluge mit ihm nach Düppel habe ich schon berichtet. Hier will ich noch hinzufügen, daß wir damals mit dem Dampfer von Sonderburg nach Flensburg fuhren. Wir sprachen mit dem Kapitän. Er erzählte vom Jahre 1849, mein Vater ebenfalls, und da ergab es sich, daß der Kapitän damals Artillerist im dänischen Heer gewesen war, und daß seine auf der Insel Alsen aufgestellte Batterie oft Granaten gegen die Schanzen in Sundewitt geworfen hatte, an denen mein Vater mit arbeitete.
Die Familie des Kreisbauinspektors Hotzen nahm sich meiner freundlich an. Viele trauliche Stunden habe ich in ihrem Kreise verlebt.
Behandlung des alten Beinleidens – und eine Reise als Auszeichnung für’s Examen
Im November 1886 vollendet ich die Bearbeitung und Veranschlagung des Entwurfes zum Domturm. Dann beschloß ich, im Einvernehmen mit meinen Eltern, in der Klinik des Herrn Dr. Neuber in Kiel den alten Schaden an meinem linken Bein durch eine Operation beseitigen zu lassen. Ich ging nach Kiel, und Neuber griff mit Messern und Meißeln energisch ein. Unmittelbar nach dem Eingriff besuchte mich meine liebe Mutter. Fast dreizehn Monate, bis in den Dezember 1887 hinein, mußte ich mich in der Klinik aufhalten. Dann wurde ich, kurz vor Weihnachten, entlassen. Vorher hatte ich die Nachricht erhalten, daß mir, weil das Baumeisterexamen mit Auszeichnung bestanden habe, vom Staate der Betrag von 1800 Mark zur Ausführung einer Studienreise ausgezahlt werden solle. Einige Monate blieb ich noch im Hause meiner Eltern. Dann, als ich mich stark genug fühlte, beschloß ich, die Reise anzutreten. Ich wollte nach Italien fahren, damals dem gelobten Lande aller Architekten. Von meinem Beinleiden war ich nahezu befreit. Die langjährige Eiterung hatte fast völlig aufgehört, sie wurde immer geringer. Die Wunde schloß sich und vernarbte, als ich in Rom war. Auch von den lästigen Anschwellungen der Speicheldrüsen blieb ich von da an verschont. Mit der Steifigkeit im Knie, die sich schon im Jahre 1873 eingestellt hatte, als das Leiden am Bein mich überfiel, mußte ich mich abfinden. Mich hat sie nie geniert oder gehindert. Ich war von einem langjährigen, lästigen Leiden befreit, fühlte mich wie neu geboren und war dem gütigen Lenker aller Dinge von Herzen dankbar. Auch meines Arztes Dr. Neuber habe ich bis heute mit Dankbarkeit gedacht.
Erinnerungen an Albert Haas
Als ich mich bei meinen Eltern aufhielt, besuchte mich eines Tages mein Mitabiturient und guter Freund Albert Haas aus Dortmund, damals Bergassessor, auch in unserem Revier bekannt und selbstverständlich auch beliebt, denn er verstand es, mit den Leuten umzugehen. Wir gingen von der Zeche zum Frühschoppen in die Wirtschaft von Kohlleppel auf de Werner Heide, in der sich auch die damals noch so kleine Post befand. Bald kam auch der im oberen Geschoß wohnende Postmeister Hegenberg und setzte sich gemütlich mit seiner langen Pfeife zu uns. Er trank nun mit uns einen Schoppen Bier nach dem anderen und ließ Post Post sein, denn die Geschäfte auf dem Bureau hatte er n die Hände eines noch sehr jugendlichen Gehülfen gelegt. Wir wurden bald warm, erzählten Schnurren, von denen besonders Haas einen unerschöpflichen Vorrat hatte, und vergaßen dabei das Trinken nicht. Dem Postmeister schien es immer besser zu gefallen. Bald hatte sich auf der Werner Heide das Gerücht verbreitet, ich säße mit dem Postmeister und einem anderen fidelen Herrn beim Kohlleppel, und da ginge es hoch her. Nun kamen ein paar alte, längst verheiratete Schulkameraden, setzten sich zu uns und nahmen an der Kneiperei Teil. Der Postmeister wurde immer gesprächiger. Die unerhörtesten Geschichten wurden erzählt und belacht. Dicke Wolken von Tabakrauch schwebten im Zimmer, so daß die Fliegen an der Decke erstickten. Hin und wieder sandte eine Mutter ihr Kind mit dem Auftrage, den Vater zum Essen zu holen. Doch die Väter saßen wie angenagelt und dachten nicht daran, die wundervolle Tafelrunde zu verlassen. Zuweilen machten auch die Frauen selbst den Versuch, ihre Männer zum Aufbruch zu bewegen. Es war alles vergeblich Da glaubte Frau Kohlleppel ihren Geschlechtsgenossinnen beistehen zu müssen und sagte, die Frauen wollen essen und seien doch auch Menschen. Darauf Haas: „Was sagen Sie da? Menschen sind die Frauen? Alle Frauen auf der Welt und auf der Werner Heide, und Sie auch, sind überhaupt keine Menschen.“ „So? was sind sie denn?“, fragte spitz Frau Kohlleppel. Da antwortete Haas: „Engel sind sie.“, worauf Frau Kohlleppel, die einem Engel nicht im Mindestens ähnlich sah, geschmeichelt schmunzelte und die Segel strich. So war der letzte Widerstand beseitigt, und die Geschichte ging weiter. Kurz darauf stand Haas auf und ging hinaus. Ich hörte, wie er draußen mit dem Postgehülfen flüsterte. Als er zurückkehrte, kniff er mir ein Auge zu. Nach ein paar Minuten kam der Gehülfe ins Zimmer und meldete seinem Herrn, der Postdirektor aus Dortmund sei soeben in das Bureau gekommen und ließe ihn bitten, sich doch gefälligst zu ihm zu bemühen. Dem Postmeister stockte das Wort im Munde, schreckensbleich stellte er seine lange Pfeife in die Ecke, wischte sich den Mund ab, rückte die verschobene Kravate zurechte und ging hinaus. Aber bald kehrte er grinsend zurück, vom Gelächter der inzwischen von dem Scherz verständigten Gesellschaft empfangen. Sofort bestellte er ein frisches Glas, und weiter ging das Gelage. Endlich verzogen sich die Ehemänner, einen schlimmen Ausgang oder den Zorn ihrer Gattinnen fürchtend, und auch der Postmeister sagte: „Entschuldigen Sie mich mal einen Augenblick, meine Herren, ich will nur mal eben nach oben zu meiner Frau gehen und ein bißchen Kapps essen.“ Bald kam er zurück, und die Sitzung nahm ihren Fortgang, bis auch wir zum Essen gehen mußten, zum Leidwesen des Herrn Postmeisters. Ein paar Tage darauf sah ich ihn wieder, da sagte er: „Kommt der verrückte Kerl, der Bergassessor Haas, nicht bald mal wieder her? O, das ist ein Witzemacher. Der Tag bei Kohlleppel war einer der schönsten Tage meines Lebens.“
An diesen meinen Freund Haas knüpft sich auch die Erinnerung an ein sonderbares Zusammentreffen in der Zeit, da ich noch Bauführer in Busendorf war. Ich hatte Urlaub genommen und meine Eltern besucht. Auf der Rückkehr nach Lothringen wollte ich über Saarlouis nach Teterchen fahren. In Saarlouis beabsichtigte ich zu übernachten, weil es schon sehr spät geworden war. Ich stieg aber irrtümlich schon in Ensdorf vor Saarlouis aus. Als ich meines Irrtums inne wurde, fuhr der Zug weiter, und da stand ich nun allein auf dem mir völlig fremden, menschenleeren Bahnsteig. Da kamen aus der Bahnhofswirtschaft, die gerade geschlossen werden sollte, zwei Herren, die letzten späten Gäste. Ich redete sie an, um mich nach einem Gasthof zu erkundigen. Da rief der eine: „Ehrhardt, Mensch, wo kommst Du denn her?“ Es war mein Freund Haas, der mich nun mit in sein Quartier nahm. Er wohnte in einem Gasthof nahe beim Bahnhof. Als wir dahin kamen, war die Frau des Besitzers im Begriff zu Bett zu gehen. Sie wurde verständigt und sorgte für meine Unterkunft. Dann empfahl sie sich. Wir beiden Freunde aber setzten uns in das behagliche Gastzimmer und fingen an zu erzählen. Wir zapften uns selbst Bier, und mein Freund malte jedesmal, wenn er einen Schoppen gefüllt hatte, mit Kreide einen Strich an die Tür, damit wir am Morgen auch richtig bezahlten. Es wurde grauer Wintermorgen, als wir in die Federn krochen. Ja, es ist schön, wenn man in höchster Not plötzlich einen guten und hülfsbereiten alten Freund findet. Ich hatte keine Ahnung davon gehabt, daß Haas in Ensdorf als Bergreferendar im Dienste stand.
Die Italienreise
Nach dieser Abschweifung kehre ich nun wieder zurück in das Haus meiner Eltern, wo ich die Vorbereitungen zu meiner Reise getroffen und Italienisch gelernt hatte. Der März war gekommen und hatte die Erde noch einmal in ein winterliches Kleid gehüllt. Da kam an einem Morgen mein Vater in das Wohnzimmer und verkündete uns tränenden Auges, der alte Kaiser sei gestorben. Da war es uns allen, als sei ein gütiger Vater von uns gegangen.
Wenige Tage danach brach ich auf und zog aus Schnee und Eis zum sonnigen Süden, über die Alpen nach Italien, mit wenig Reisegepäck, aber mit einigen Büchern, mit Zeichenpapier und Bleistiften, wohl versorgt auch mit italienischen Goldstücken. Es ging über Mailand und Pavia nach Pisa, dann nach dem herrlich im Hügellande gelegenen Siena. Weiter nach Orvieto und zum brunnenreichen Viterbo, das etwas abseits liegt und darum so wenig besucht wird. Von dieser Stadt machte ich einen Seitensprung nach Ferento. Das alte Ferentinum im Lande der Herniker ist heute ein wilder Trümmerhaufen in einsamer Landschaft. Reste römischer Bauwerke zeugen von seiner ehemaligen Blüte. Im zwölften Jahrhundert wurde die Stadt in einem Bürgerkriege zerstört, und wie damals die Verwüster sie verlassen, so leigt sie noch heute. Von Viterbo bin ich auch nach Toskanella gefahren. Da stehen zwei merkwürdige mittelalterliche Basiliken mit Mosaiken an der Westfront. Längst sind sie verlassen. In der einen weidete vor der Stätte des Altars ein Esel, der sich an dem üppig sprossenden Grase gütlich tat.
Endlich kam ich nach Rom. In Viterbo hatte ich noch meine erstarrten Finger an der Flamme einer Kerze zu erwärmen versucht. In Rom war der Frühling eingezogen und sandte die italienische Sonne schon heiße Strahlen auf die Erde. Ich kam in die ewige Stadt zur Osterzeit, wo alles von Pilgern wimmelte. Deshalb blieb ich nur wenige Wochen, um einen Überblick zu gewinnen. Sie genügten auch, mir einen flüchtigen Eindruck zu geben. Dann eilte ich weiter nach Neapel, besuchte Kapri, Salerno, Amalfi, Puzzuoli, die alten Städte Pompeji und Herkulaneum, darauf Sorrent und viele andere Orte am herrlichen Golf.
Hier lernte ich auch den Regierungsbaumeister Armin Wegner kennen, dem ich mich nun bis zum Ende der Reise anschloß. Wegner, der Erbauer des Siecheschen Bierhauses in Berlin, hatte die Gebäude der deutschen Botschaft in Konstantinopel errichtet und wollte nun, nachdem er einen Teil Griechenlands durchstreift hatte, über Italien nach Berlin zurückkehren. Er begleitete mich nach Rom. Da traf ich bei einem Ausfluge in die Kampagna unerwartet meinen Freund Menken, der damals in Rom bei einem Architekten tätig war. Währen der Zeit, wo wir uns in Berlin zum zweiten Staatsexamen vorbereiteten, hatte ich viel mit ihm verkehrt.
Diesem Dreibunde Wegner, Menken, Ehrhardt schloß sich in Rom ein Bekannter Wegners, der Bildhauer Grüttner an. Er hatte in Olympia die zertrümmerten Giebelfelder des Zeustempels zusammengeflickt und studierte und modellierte nun in Rom. Immer klagte er, daß es in dieser Stadt keine guten weiblichen Modelle gäbe. Und in der Tat, die Modelle, die wir in einem Atelier an der Piazza del tritone sahen, waren Entsetzen und Mitleid erregend. Diese Weiber handelten recht, wenn sie sich bei unserem Erscheinen vor uns verhüllten.
Wir bildeten eine vergnügte Gesellschaft und waren viel zusammen, wurden auch mit anderen Künstlern bekannt. In Rom lernte ich den Professor Meurer kennen und den sehr redegewandten und redelustigen Professor Schottmüller. Mit den Freunden ging ich wohl abends in die Kampagna. Da genossen wir den Zauber dieser unvergleichlichen, unbeschreiblich malerischen Einöde. Oft auch besuchten wir die rührend einfachen alt-christlichen Kirchen in der Umgebung, verlebten die Abendstunden in irgend einer ländlichen Lokanda unter weitschattenden Rebengehängen und Maulbeerbäumen und sahen auf die in den milden Strahlen der Abendsonne ruhende ewige Stadt mit der herrlichen Kuppel von Sankt Peter.
Ich hatte bei Privatleuten ein Zimmer gemietet. Siesta haltend, lag ich hier an einem heißen Nachmittage, als sich plötzlich auf der Straße das laute Geschrei der Zeitungsjungen hören ließ. Sie riefen den Tod unseres Kaisers Friedrich aus und machten einen Lärm, als handle es sich um den italienischen Landesherrn. Nicht lange nach diesem Tage wurde ich mitten im Studium und in der Schwärmerei von Rom abberufen, ich darf wohl sagen zu meinem großen Leidwesen, denn ich hatte vor, noch Sizilien zu besuchen. Ein Schreiben aus Berlin wies mich an, mich sofort nach Schleswig zu begeben. Kaiser Friedrich hatte kurz vor seinem Tode die Mittel zum Bau des Turmes am Dom angewiesen und nun sollte ohne Zögern mit dem Bau begonnen werden. So hieß es denn, von Rom und den Freunden Abschied nehmen. Wir tranken abends auf Wiedersehen auf einem an der Ripetta liegenden Schiff, das Wein von Marsala gebracht hatte. Hier schenkten mir meine Genossen noch eine große langhalsige Flasche des süßen Getränkes, die ich auch glücklich nach Westfalen brachte. Dann würde in der Stadt am Korso weiter gefeiert, zuletzt bei Schaumwein von Asti. Wir fuhren darauf zur Fontana Trevi, ich warf einen Kupferpfennig in das Wasser, mir so nach altem Brauch das Wiedersehen mit der ewigen Stadt sichernd, und dann gings nach Norden.
In meiner Heimat blieb ich nur ein paar Tage. Von meinen Eltern hörte ich, daß es meinen alten Lehrer Nölle nicht zum Besten gehe. Er litt an einer Art Verfolgungswahnsinn. In Werne waren neue Schulen gebaut worden, und mit einem jüngeren Lehrer geriet Herr Nölle, der annahm, man wolle ihm Ansehen und Autorität in der Gemeinde untergraben, in heftigen Streit. Dieser griff sein Nervensystem so stark an, daß er zuweilen Tage lang auf den benachbarten Dörfern umherirrte und Menschen aufsuchte, von denen er annahm, daß sie nichts gegen ihn im Schilde führten. Auch alt schien er zu werden. Wenn er mit seiner Frau abends meine Eltern besuchte, dann ereignete es sich wohl, daß das Ehepaar nach dem Essen in der Unterhaltung in den Schlaf fiel. Beide saßen im bequemen Sopha, er in der einen Ecke und sie in der anderen. Dann nickte zuerst er ein, und dann folgte sie. Am Tische aber schlief alsbald auch die Unterhaltung ein, um den Schlaf der beiden Lehrersleute nicht zu stören. Erwachten sie, dann ging das Gespräch weiter, als ob nicht vorgefallen wäre
Zurück in Schleswig
In Schleswig bezog ich ein paar Zimmer in dem kleinen Hause vor dem Dom. Die Arbeits-zimmer befanden sich in einem Nebengebäude. Wieder unterstand ich dem Baurat Hotzen.
Hotzen, ein Hannoveraner, hatte als Offizier der hannoverschen Armee den Krieg gegen Preußen im Jahre 1866 mitgemacht, und ist bis zu seinem Tode ein treuer Anhänger seines Königs geblieben. Als junger Baumeister hatte er die alte zweitürmige Stiftskirche in Bücken bei Hoya nach dem Entwurfe Hases wiederhergestellt und später an der Instand¬setzung des Kaiserpalastes in Goslar Teil genommen. Er war ein vortrefflicher Kenner der mittelalterlichen Kunst. Im Jahre 1922 ist er im Alter von mehr als 90 Jahres in Hildesheim gestorben. Mit einer seiner Töchter, der Frau des Sanitätsrates Grußendorf in Rotenburg i.H., stehe ich noch in freundschaftlichem Verkehr.
Da ich Schleswig kannte, so wurde es mir leicht, mich einzuleben. Die Vorbereitungen zur Ausführung des Baues nahm ich sofort in die Hand. Wie oft habe ich damals in der Erinnerung an die schönen Tage in Italien meiner Gefährten in Rom gedacht. Es war ein regnerischer kühler Sommer. So oft habe ich mich an kalten, trüben Tagen nach der warmen, glänzenden Sonne des schönen Landes im Süden gesehnt. Grüttner und Wegner habe ich in Berlin wiedergesehen, Grüttner auch mehrmals in Bremen, wo der verstorbene Pastor Dr. Veeck sein Gönner und Freund war. Menken sah ich zum letzten Mal in Rom. Diese drei Gefährten in schönen Tagen der Jugend weilen nicht mehr im Kreise der Lebenden.
Den Grundstein zum Domturm legten wir im Sommer 1889 mit großer Feierlichkeit. Die Baugewerke zogen mit wehenden Fahnen, eine Militärkapelle an der Spitze, zur Baugrube, anderen Rande für geladene Gäste Tribünen errichtet waren. Herr Baurat Hotzen und ich trugen neue, von einem Weißgerber angefertigte Schürzfelle. Wir mögen mit diesen, im Frack und mit weißer Binde, mit feierlichem Zylinder und weißen Handschuhen, wohl einen etwas fremdartigen Anblick geboten haben. Ich war froh, als ich später das weiße Kalbfell ablegen konnte. Nach der Feier, bei der unser verehrter Hauptpastor am Dom Schnittger die Weiherede hielt und viel mit sinnigen Sprüchen auf den Grundstein geklopft wurde, gab es für die Arbeiter in den Zelten eine festliche Bewirtung. Leider hatten wir an dem fröhlich feierlichen Tage einen bedauerlichen Unfall zu beklagen, denn am nächsten Tage sagte mir eine eingeladene Frau, die auf der Tribüne das Schauspiel angesehen und genossen hatte: „O Herr Baumeister, als der Festzug sich zeigte und Sie und Herr Baurat Hotzen in ihren weißen Schurzfellen zum Vorschein kamen, da habe ich mich tot gelacht.“ Sonst ging alles gut von statten. Die meiste Arbeit hatte auf meinen Schultern gelegen.
Bald stiegen, weithin in das Land schauend, die Gerüste und die roten Mauern des Domturmes in die Höhe. Dann erhielt ich den Auftrag, auch die Pläne zur Wiederherstellung der Domkirche zu entwerfen. Dabei handelte es sich in der Hauptsache um die Vollendung der beiden Chortürme, den Aufbau der Giebel an beiden Kreuzflügeln, den Umbau des Dachreiters und um die Instandsetzung und den Schmuck des Innern. Auch für diese Arbeiten wurden die Geldmittel bald bewilligt, sodaß sie in Gang kamen. So war meine Tätigkeit in Schleswig wichtiger, inhaltreicher und vielseitiger geworden. Groß war die Überraschung, als bei den Arbeiten im Inneren unter der Tünche umfangreiche mittelalterliche Malereien an den Wänden und Gewölben gefunden wurden. Wir haben sie von dem hannoverschen Maler Olbers auffrischen lassen.
Bekanntschaften, Erinnerungen und Anekdoten aus der Schleswiger Zeit
Noch nicht lange war ich in Schleswig, da besuchte mich der Sohn des in Friedrichsberg, einem Stadtteil Schleswigs, wohnende Propstes Ziese, ein Mitglied unserer Tafelrunde in der Fleur d’or zu Straßburg. Er war mittlerweile Gerichtsassessor geworden. Das hatte einige Mühe gekostet. Einer meiner Bekannten aus der Straßburger Zeit erzählte mir einmal aus Zieses Examenszeit eine köstliche Geschichte, die sich zutrug, als ich Straßburg schon verlassen hatte. Ziese, ein kleiner, dicker Mensch mit schwarzen Haaren, hatte in Straßburg seinen besten Freund, Wagner. Der war blond, ebenfalls klein, aber noch dicker als Ziese. Beide studierten die Rechte, waren aber sehr verbummelt und brachten dem Gott Bacchus reichliche Opfer. Sie studierten sehr lange. Weil nun aber die meisten Menschen, die studieren, ihr Studium einmal abschließen, so meldeten auch sie sich zum ersten juristischen Staatsexamen, das in Kolmar abzulegen war. Sie traten die Reise gemeinschaftlich an, geleitet von den Segenswünschen ihrer Freunde und Genossen. Diese wollten sie bei der Rückkehr am Straßburger Bahnhof abholen, und dann wollte man die beiden würdigen Herren im Triumph zum Fleur d’or geleiten und nach bestandenem Examen mit ihnen einen fröhlichen Trunk tun. Der Abend kam, die Schaar auch. Der Schaffner machte lächelnd die Tür eines Abteils auf, in dem Ziese und Wagner nicht saßen, sondern lagen, beide schwer betrunken und kaum fähig sich zu erheben und zu gehen. Man glaubte natürlich, sie hätten bestanden und in ihrer Freude des Guten zu viel getan. Aber Wagner belehrte sie lallend eines Besseren. Sie waren durchgefallen. Die glückliche Rückkehr wurde trotzdem in der Fleur d’or gefeiert. Später wiederholten die beiden dicken Freunde das Examen mit besserem Erfolge.
Groß war der Anteil, den die Schleswiger am Dombau nahmen. Oft habe ich Besucher durch den Dom und auf den hohen Turm geführt, von dem man eine herrliche Aussicht genoß. Kam ein Fremder nach Schleswig, so wurde gewöhnlich die Besichtigung des Domes auf das Programm seiner Unterhaltung gesetzt. Stand doch im Chor der berühmte Altar des Brüggemann und das kunstreiche steinerne Kenotaph des Königs Friedrich des Ersten von Dänemark, und barg doch die Kirche an den Wänden und in den Grabgewölben viele andere wertvolle Denkmäler der Kunst. Einmal kamen zwei baumlange Herren, um sich nach Wappen ihrer Familie zu erkundigen, der in Schleswig geborene türkische Oberst Kamphövener Pascha und sein Bruder aus London. Der letztere sandte mir einige Wochen später zum Dank für meine Bemühungen aus London einen Modellierbogen von der Towerbrücke im Werte von vielleicht 1 Mark „für meine Kinder“.
Ein anderes Mal kam die Prinzessin Heinrich von Preußen, über die mir vorher irgend Jemand mitteilte, sie sei sehr schüchtern, dann Prinz Christian von Schleswig-Holstein mit seiner Tochter. Ferner die Minister Herrfurth, Goßler und Zedlitz-Trütschler und viele andere, berühmte und unbekannt Leute. Regen Anteil nahm an den Arbeiten auch der damals in Schleswig ansässige Baron Rochus von Lilienkron, Herausgeber der allgemeinen deutschen Biographie. Er war auch ein ausgezeichneter Runenkenner. Lilienkron wohnte als Propst des St. Johannisklosters auf dem Holm, wo auch die kleinen Häuschen der Fischer standen. Aus dem Kloster war eine Versorgungsanstalt für unverheiratet gebliebene Damen des schleswig-holsteinischen Adels geworden. Lilienkrons Schwiegersohn war der Finanzminister, dann Oberpräsident der Rheinprovinz v. Rheinbaben. Auch er kam zuweilen in den Dom.
Zur Feier des siebzigsten Geburtstages Lilienkrons veranstalteten wir in seinem Haus auf dem Holm eine kleine Feier mit Aufführungen. Wie an anderen Orten, so ging es auch hier, wenn man gar nichts anderes weiß, dann veranstaltet man lebende Bilder. So verfiel man auch hier auf lebende Bilder mit – entsetzlich zu sagen – einer Schlussapotheose. Ohne die ging es in jenen Jahren nicht. Es kamen zu dem Fest sehr viele Menschen, die in dem Hause kaum Platz fanden, denn Lilienkron war ein angesehener und wissenschaftlich hervorragender Mann, der schon in der Erhebung Schleswig-Holsteins gegen die dänischen Unterdrücker eine Rolle als Diplomat gespielt hatte. Er war auch Vertrauter der herzoglichen Familie und der Kaiserin Viktoria Auguste. Gelang es mir nun auch, bei der Feier mich vor dem Anblick der lebenden Bilder zu drücken und mich in gefahrloser Entfernung von ihnen zu halten, so nahm ich doch an der Aufführung eines kleinen Theaterstückes einen lebhaften Anteil, bei dem ich aber zum Glück den Zuschauern verborgen blieb. An dem einen Ende des Speisezimmers, das als Theater dienen mußte, war ein kleines Podium als Bühne aufgeschlagen, sodaß also der Raum hinter der Bühne, zu dem aus dem Speisezimmer eine schmale Tür führte, eine Stufe nieriger lag. Es wurde ein kleiner Einakter: Im Warzesaal zweiter Klasse aufgeführt. Ein dicker Berufsgenosse namens Münchow gab den Oberkellner, der ab- und zugeht, einmal auf der Bühne zu tun hat und dann wieder durch die erwähnte Tür in das kleine Zimmer sich zurückzieht. Ich ging in dieses Zimmer und wollte, als das Spiel begann, mich entfernen. Da sagte aber Münchow: „Ehrhardt, bleiben Sie um Gottes Willen hier, für den Fall, daß irgend was passiert. Verdammt, meine Hose sitzt mir so stramm.“ Münchow hatte sich ein paar Kotletts an die Backen geklebt, und sein Aussehen reizte mich schon zum lachen. Das Spiel begann, und ich blieb, zum Glück für das Gelingen des Stücks und für das Wohl der Allgemeinheit. Als das Stichwort fiel, trat Münchow durch die mit einem Tuch verhängte Türöffnung auf die Bühne, mit schallendem Gelächter empfangen. Als er nach einiger Zeit die Bühne wieder verlassen mußte, ging er rückwärts, mit dem Gesicht den Zuschauern zugewandt. So wollte er durch die Tür in das Hinterzimmer treten. Er dachte aber im Eifer des Spiels nicht an die tückische Stufe, strauchelte, machte einen großen Schritt, um nicht hinzufallen, und ratsch! da platzte die Hose in einem langen Riß gerade da, wo sie hätte halten müssen, so daß sichtbar wurde, was besser verborgen geblieben wäre. Nun war Holland in Not, denn bald mußte er wieder auf die Bühne treten. Zunächst konnte ich vor lachen kein Glied rühren, dann aber ermannte ich mich zu helfen. Münchow schrie mit an: „Ehrhardt, t’Schtück muß uffhören!“ Dann: „Ehrhardt, holen Se schnell ne schwarze Hose vom ollen Lilienkron.“ Der saß aber im Zuschauerraum und hatte seine schwarze Hose selbst dringend nötig, denn er hatte sie am Leibe. Münchow schrie wehklagend: „Herrgott, was machen wir bloß? Gleich kommt mein Stichwort, denn muß ich wieder uff de Bühne. Ehrhardt, Stecknadeln her!“ Schnell lief ich hinaus, Nadeln zu holen, geriet aber in das Zimmer, in dem die Damen der lebenden Bilder ihre Toiletten ablegten. Sie schrieen entsetzt auf und wollten mich an die Luft befördern, doch ich blieb und forderte Stecknadeln. Die erhielt ich, und nun rannte ich in das Hinterzimmer, wo Münchow hoffnungslos und zerschlagen wie ein Klumpen Elend auf einem Stuhl saß. Er mußte sich nun auf einen Tisch legen, und es gelang mir, den klaffenden Riß mit einer Handvoll Nadeln zu schließen. Nun kam das Stichwort, ich hob ihn auf das Podium und empfahl ihm, nur ganz kleine, vorsichtige Schritte zu machen, das Serviertuch aber für alle Fälle über den zugesteckten Riß herabhängen zu lassen. Dann betrat er wieder die Bühne, die Nadeln hielten, und das Stück kam glücklich zu Ende. Ich aber trocknete die Tränen, die ich gelacht hatte. Nachher beim Essen in der Halle wurde dieses Trauerspiel hinter der Bühne erzählt, und die Menschen wollten sich ausschütten vor lachen. Der „olle“ Lilienkron aber schenkte uns Mitwirkenden sein Bild.
Mit der Familie Münchow war ich sehr befreundet. Münchow hatte gesellschaftliche Talente, er konnte zaubern und Theater spielen und trat bei Wahlen in den Dörfern und Städten der Umgebung als schlagfertiger Volksredner auf. Längst ist er gestorben, auch seine Frau, eine temperamentvolle Thüringerin.
Als ich schon einige Jahre in Schleswig war, zog in diese Stadt der bekannte Schriftsteller Hermann Heiberg. Sein Bruder Julius war in Schleswig Bürgermeister. Dort lebte auch damals noch Heibergs Mutter, eine geborne Gräfin Baudissin, eine geistvolle Frau. Heiberg war oft am Dom und ich in seiner Familie. Als er einst mit mir und anderen Personen in Münchows Haus eingeladen war, verlas Münchow eine von mir verfaßte und mit altertümlichen Bildern geschmückte Geschichte, die im Dom spielte, und in der Heiberg arg mitgenommen wurde. Als er sie gehört hatte, kam er zu mir und sagte: „Lieber Dombaumeister, geben Sie mir Ihre Hand, ich möchte Sie von jetzt ab nur ‚Ehrhardt’ nennen.“
Ein anderes Mal war ich beim Bürgermeister Heiberg eingeladen. Da stand Hermann Heiberg beim fröhlichen Mahl auf, klopfte ans Glas und schilderte witzig das ruhige und behagliche Leben des Bürgermeisters einer kleinen Stadt. Kaum hatte das Lachen sich gelegt, da erhob sich der Bürgermeister und entrollte vor unseren Augen den täglichen Lebenslauf eines Schriftstellers, der sich aus dem Lärm der Großstadt in die Ruhe eines kleinen Orts zurückgezogen hat. Wir kamen aus dem Lachen nicht heraus.
Als ich Schleswig verlassen hatte und in Berlin tätig war, kam Hermann Heiberg einmal mit seiner Frau nach Berlin. Er gab mir Nachricht, und ich suchte das Ehepaar im Hôtel auf. Da erzählte mir Heiberg ein drolliges Erlebnis. Vorher muß ich noch berichten, daß Heiberg in Berlin einen Sohn hatte, der schauspielerisches Talent besaß. Dieser wollte sein Eltern im Hôtel aufsuchen und tat das nach seiner Weise. Heiberg erzählte: „Ich schrieb gestern Morgen hier im Hôtel in meinem Zimmer. Bei mir saß meine Frau. Da klopfte es etwas ungestüm, die Tür geht auf, und herein kommt ein junger Mann, anscheinend ein Barbier. ‚Guten Morgen, ich bin bestellt, ich soll hier rasieren.’ ‚Nein, das ist ein Irrtum, ich bin schon rasiert. Sie haben sich wohl in der Zimmernummer geirrt’, sage ich. ‚Ne ne, is schon richtig, hier ist Nummer 8’, sagte er. Und gleichzeitig fängt der Mensch an, ganz ungeniert Schaum zu schlagen. Das wurde mir denn doch zu bunt. Ich sage erregt: ‚Hören Sie denn nicht? Ich habe Sie nicht bestellt. Solch eine Unverfrorenheit ist mir denn doch noch nicht vorgekommen. So, nun machen Sie aber schnell, daß Sie rauskommen!’ Der Mensch fährt unbekümmert fort, Schaum zu schlagen. Schon dachte ich daran, den Hausknecht herbeizu¬rufen, da nimmt der Barbier seinen angeklebten Schnurrbart ab und sagt: ‚Aber Vater, kennst Du denn Deinen Sohn nicht mehr?’ Selbst meine Frau hatte ihr Kind nicht erkannt.“
Hermann Heiberg ist in drückenden Verhältnissen in Schleswig gestorben. Seinen Bruder habe ich mit meinem Sohn Liemar im Jahre 1918 in Schleswig besucht. Da hatte er das Szepter der Stadt schon in jüngere Hände gelegt.
In dankbarer Erinnerung steht in meiner Seele das Ehepaar Schnittger. Er war Hauptpastor am Dom, ein Kampfgenossen aus dem Kriege gegen Dänemark. Die Dompastorin malte und schriftstellerte und war eine Freundin aller Künste. Oft war ich abends in das Pastorat am Dom eingeladen. Beide habe ich später, im Jahre 1911, noch einmal in Schleswig besucht. Sie ruhen auf dem Friedhof der Domgemeinde. Ihre Nichte, Dorothee Brix aus Itzehoe, jetzt längst verheiratet, ist mir noch heute eine liebe Freundin.
Viel war ich auch im Hause des Domorganisten Meymund. Da wurde zuweilen bis spät in die Nacht gute Musik gemacht.
Von den Beamten der Regierung ist mir der Baurat Angelroth ein lieber Freund gewesen. Mehrmals haben wir in Schleswig an Wettbewerben Teil genommen. Mit Bedauern sah ich ihn scheiden, als er nach Magdeburg versetzt wurde. Später kam er as Regierungs- und Baurat nach Wiesbaden. Da ist er auch gestorben.
Befreundet war ich auch mit Geyer, jetzt Oberregierungsrat in Hannover. In Bremen und Hannover haben wir uns später mehrmals getroffen.
In Schleswig war auch einmal Baurat Steinbrecht, der Wiederhersteller der Marienburg. Anregungen fand er da vorzüglich im Schwahl (Kreuzgang) mit seinen reichen, wieder aufgefrischten Bemalungen aus dem Mittelalter. Als ich nach Jahren einmal die Marienburg besuchte, war ich erstaunt, diese Schleswiger Malerei dort in einem Kreuzgang des Schlosses wiederzufinden, wenn auch in etwas kleinerem Maßstabe. Der Maler Professor Schaper in Hannover hat sie wohl von Schleswig dorthin übertragen.
Die Geburtstage des Kaisers wurden in Schleswig mit einem feierlichen Gottesdienst im Dom und einem Festmahl in den Sälen des Hôtels Stadt Hamburg begangen. Nach dem Essen besuchten wir, eingeladen von den Offizieren der Garnison, meist die Tanzfeste der Kompagnien und Schwadronen. An einem solchen Abend ging ich mit dem Baumeister Twiehaus im Dunkeln auf der Flensburger Landstraße. Dieser redete viel. Plötzlich war er verstummt, wie weggehext. Da hörte ich aus dem tiefen Graben neben der Landstraße eine Stimme: „Ehrhardt, helfen Sie mir mal eben heraus.“ Zugleich sah ich undeutlich zwei Hände. Ich half ihm heraus; er hatte sich zum Glück nicht beschädigt.
Eine andere Geschichte ereignete sich, als ich im Winter spät abends von einer Gesellschaft beim Oberpräsidenten kam. Der Wind pfiff heulend um die Ecken und rumorte in den Gassen. Von oben und unten, von hinten und vorn, aus allen Richtungen blies er. Ich ging grade neben einem dichten Bretterzaun, der einen Hausgarten von der Straße abschloß. Plötzlich war mein Zylinder fort. Ich suchte lange auf der Straße, fand ihn aber nicht. Endlich kamen Leute aus dem Hause. Der Mann war ebenso ratlos wie ich. Er hatte aber eine pfiffige Frau. Sie ging mit mir in den Garten, und da lag mein Zylinder unten am Zaun. Der Wind hatte ihn mir vom Kopf gehoben, in die Lüfte entführt und über den Zaun getragen, um ihn dann im Garten sanft in den Schnee fallen zu lassen.
Als der Turm im Wesentlichen vollendet war, erlebten wir einen furchtbaren Sturm, der viele Pfannen vom Domdach riß und in der Luft umherwirbelte. Er spielte mit dem Hahn des Turmes und mit dem neuen Dachreiter wie mit schlanken Baumstämmen, die hin und her schwankten. Nur mit Mühe gelang es uns, die Scheiben kostbarer Fenster, die ich leichtsinnig los hatte einhängen lassen, vor der Zerstörung zu bewahren. Am Turm war nichts beschädigt, nur hatte der Wind dem schönen stolzen Wetterhahn den Hals geknickt. In der Stadt waren Mauern eingedrückt und umgeworfen.
Bei einer Gesellschaft im Oberpräsidium erzählte mir die Frau des Oberpräsidenten Excellenz v. Steinmann eine Geschichte vom Generalfeldmarschall v. Moltke. Einige Jahre vorher war der alte Herr in Schleswig gewesen, um das Grab seiner Mutter zu besuchen, die in einem kleinen, später abgebrannten Hause nicht weit vom Dom lange als geschiedene Frau gelebt hat. Bei dieser Gelegenheit erzählte er der Frau v. Steinmann die folgende mitteilenswerte Geschichte. Der junge Moltke stand als Leutnant in dänischen Diensten in der Festung Rendsburg. Er liebte die schöne Tochter eines Schleswiger Bürgers, der in einem einsam bei der Stadt Schleswig liegenden Hause wohnte. Wie es so oft geht, so ging es auch in diesem Falle. Sie reichte ihre Hand nicht dem armen Leutnant, sondern einem Anderen. Am Abend ihres Hochzeitstages steckte sich der Leutnant Moltke ein Butterbrot in die Tasche und marschierte allein nach Schleswig. Es war dunkel, als er bei dem Hause der Geliebten ankam. Dort schlich er an ein Fenster und blickte in den hell erleuchteten Saal, in dem die Hochzeits-gesellschaft tafelte, und da sah er auch sie an der Seite ihres Gatten in ihrem Glück. Dann schlich er davon und wanderte wieder nach Rendsburg. Wie bekannt, holte sich Moltke viel später seine Frau aus Itzehoe. Da war er schon Hauptmann im Generalstabe.
In Schleswig wurde ich viel in Familien eingeladen, denn ich war in der Stadt überall bekannt. In einigen Familien vergnügte sich die Jugend nach dem feierlichen Mahl mit sogenannten kindlichen Spielen, Tellerdrehen oder ähnlich entsetzlichen Dingen, während die älteren Damen sich der Angelegenheiten der Stadt und nicht anwesender Personen liebevoll annahmen, und sich die älteren Herren zum Rauchen, Trinken und Kartenspiel um Tische versammelten. Da saßen sie denn wie angenagelt, bis die Gattinnen die Rauchwolken teilten und zum Aufbruch mahnten. Einmal, als getanzt werden sollte, und einige Herren sich vor diesem zuweilen anstrengenden Vergnügen zu drücken versuchten, kam der Festordner, ein älterer Assessor, herbei und sagte: „Müller, Schulze, vorwärts, Damen engagieren! Denken Sie denn, Sie sind zu Ihrem Vergnügen auf der Welt?“ Ein anderes Mal saß ich mit einigen Herren und jungen Damen zusammen. Jemand erzählte, daß irgend ein Anderer nun endlich auch heiraten wolle. Da sagte derselbe Assessor: „Was? der will schon heiraten? Der ist ja noch so rüstig.“ Dieses Wort schlug bei den Damen ein wie eine Bombe, und besonders empört zeigten sich die Zuhörerinnen, die in der Nachblüte standen. Es hagelte entrüstete Bemerkungen
Zu den alljährlichen Bällen beim Oberpräsidenten versammelten sich Eingeladene aus der ganzen Provinz. Beim Abschiednehmen küssten die meisten der Frau des Oberpräsidenten die Hand. Ich konnte mich nicht dazu entschließen, der Frau des Hauses meine Huldigung und meinen Dank in dieser Form auszudrücken.
In einigen Familien war es Sitte, mit dem in Fingernäpfchen gereichten Wasser nach der Beendigung des Mahles den Mund auszuspülen und das Wasser dann wieder in die Gefäße zu spucken. Diese Sitte war mir ein Greuel. Komisch war es für mich Unverheirateten auch, zu sehen, wie nach dem Essen Ehepaare sich küssten, wenn die Anderen sich hoch achtend, ehrfurchtsvoll oder vertraulich die Hände schüttelten.
Arbeiten im Inneren des Doms und Richtfest
Als es an die Instandsetzung des Inneren der Domkirche ging, ließ der Baurat Hotzen an einem Sommertage in aller Frühe die über der Erde befindlichen Grabgewölbe im Dom zum Teil ausräumen und diejenigen Särge, die keinen Kunstwert hatten, auf dem Domfriedhof beisetzen, wohin sie ja von Rechts wegen auch gehörten. Da die Toten aber dem schleswig-holsteinischen Adel angehört hatten, so erhob sich alsbald in der Presse des Landes ein fürchterlicher Lärm. Natürlich erhitzten sich über diese Untat, wie immer und überall, diejenigen Leute am meisten, die am wenigsten beteiligt waren, die also die Sache gar nichts anging. Die Särge aber blieben, wo sie waren, und allmählich legte sich auch die Aufregung. Hotzen hatte den Fehler begangen, die Särge, als es schon tageshell war, in Möbelwagen durch die Stadt fahren und auf dem Friedhof in einem Massengrabe beisetzen zu lassen. An demselben Tage wusste es natürlich die ganze Stadt.
Auch ich habe bei der Anlage der Heizung im Dom ein unterirdisches Grabgewölbe mit vielen Särgen ausgeräumt. Diese blieben aber im Dom, denn sie wurden im Hof des Kreuzganges wieder beigesetzt. Darob wurde kein Lärm gemacht. Allerdings hat auch Niemand außer mir erfahren, daß auch unter ihnen sich Särge von Mitgliedern des schleswig-holsteinischen Adels befanden. Ich hatte das Glück, beim Ausheben des Massengrabes noch wertvolle mittelalterliche Skulpturen in der Erde zu finden.
Später wurde Hotzen nach Harburg versetzt. An seine Stelle trat der Kreisbauinspektor Kirstein, der jetzt als Geheimer Baurat im Ruhestand in Königsberg lebt und mit mir in alter Freundschaft verbunden ist. Von den Arbeiten am Dom unterstand Kirstein nur der Bau des Turmes.
Als der Bau seiner Vollendung entgegen ging, gelang es, mit Hilfe von Stiftungen sämtliche Fenster des Domes mit farbigen Glasmalereien zu schmücken. Einen Teil der Entwürfe habe ich selbst angefertigt. Die Kaiserin schenkte die Fenster des Chores.
Im August 1902 feierten wir ein Richtfest, als der Kopf und der Hahn auf die Spitze des Turmes gesetzt wurden. Nach altem Brauch trugen Zimmerleute den Hahn auf einem Gestell durch die Stadt. Als alles an seinem Ort gebracht war, wurden die Leute bewirtet. Die Maurer sangen dabei das folgende Richtlied, das mir nachher auf meine Bitte der würdige Polier zu Papier gebracht hat:
Wir bauen Alle an einem Turm
Bei Regen, Schnee und kalten Sturm,
Bei schlechtem Wetter. Darum Vivat!
Mauermannsblut, Bruder stößt die Gläser an
Und schwenket euren Hut, ihr lieben Brüder!
Alle Leute schaun uns an,
Denn sie werden angst und bang
Für unser junges Leben. Darum Vivat! u.s.w.
Wer sich ein Gerüst erbaut
Und auf seinen Meister vertraut,
Der ist verloren. Darum Vivat! u.s.w.
Wer ein gut Gerüst erbaut
Und auf seinen Gott vertraut,
Der baut sicher. Darum Vivat! u.s.w.
Mancher ist von seinem Gerüst
Ach, schon nach so kurzer Frist
Heruntergepurzelt. Darum Vivat! u.s.w.
Hammer und Kelle sind unsere Waffen,
Damit kann kein Schuster schaffen
Und auch kein Schneider. Darum Vivat! u.s.w.
Zwischen den Arbeitern und mir bestand ein schönes Verhältnis. Ich nahm Teil an den kleinen Nöten und Sorgen der Leute, und ich glaube, sie haben mir dafür Dank gezollt.
Unterüberschrift
Das Offizierkorps des Schleswiger Husarenregiments hatte beschlossen, dem scheidenden kommandierenden General v. Leszinsky ein Auqarell des Schlosses Gottorp zu verehren. Der Oberst suchte nach einem Künstler und verfiel auf den in Schleswig ansässigen Maler Bottomley, ein Freund Hotzens, ein altes, eigensinniges und geiziges Männlein. Bottomley sträubte sich mit Händen und Füßen und verwies den Obersten an mich. Ich wollte mich auch weigern. Es war die höchste Zeit geworden, und der Oberst rang die Hände. Endlich sagte ich zu. Aber ich hatte kein geeignetes Papier, das auch in Schleswig nicht zu haben war. In meiner Not eilte ich zu Bottomley, der genug schönes Aquarellierpapier in seinen Mappen bewahrte, und bat ihn, mir ein kleines Stück zu leihen. Das verweigerte dieser unglaubliche Geizhals und Starrkopf, und ich mußte mir eiligst ein paar Bogen aus Stuttgart verschreiben. Ich malte das Bild, der Oberst kam mit seinem Adjutanten, und es gefiel beiden. Ich hatte die malerische Rückseite des Schlosses zur Darstellung wählen dürfen, aber nicht ihrer malerischen Vorzüge halber, sondern weil dann auf dem Bilde die Pferdestelle zu sehen waren, um deren Bau sich der General ein Verdienst erworben hatte, das nun seine Belohnung fand.
Wir Baubeamte hatten in Schleswig eine kleine Vereinigung, die wir Baubeliebung nannten. Da hielten wir Vorträge, die auch von anderen Personen besucht wurden. Auch kleine Feste feierten wir, mit lustigen, zuweilen spottenden und boshaften Anspielungen. Übel genommen wurde nichts.
Bei Schleswig liegt in der Schlei ein niedriges, mit Gras bewachsenes Eiland, die Möveninsel. Dahin kommen in jedem Jahr pünktlich am 12. März hunderte von Lachmöven, um dort zu nisten. War diese Zeit gekommen, dann hörte man plötzlich am Abend oder in der Nacht in der Luft ihren Schrei. Sie waren uns willkommen, und wir begrüßten sie mit Freude, brachten sie uns doch den ersehnten Frühling mit ins Land.
In der schönen Jahreszeit machten wir Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung der Stadt Schleswig und zur See. Einmal war ich auf der Insel Sylt. Kiel, Eckernförde, Schleimünde, Kappeln, Flensburg, Sonderburg und die Insel Alsen zogen uns immer wieder an. Mit meinem Freunde Angelroth habe ich auch die alte Bischofstadt Ripen besucht. Eine herrliche Gelegenheit zur Erholung boten die Dampferfahrten auf der Schlei nach Missunde, Luisenlund und anderen Orten bis zur blauen Ostsee. Oft waren wir auf der Insel Schleimünde, wo nur ein einziges Haus stand. Da wuchsen prachtvolle Standdisteln mit großen blauen Blüten, und zur Zeit des Vogelfluges waren die Wasserbecken mit Tausenden von Wasservögeln bedeckt. Auch in die Hügellandschaft der Hüttener Berge haben wir Ausflüge gemacht. Unsere Tischgesellschaft hatte ein Segelboot, mit dem wir uns oft auf der Schlei vergnügten.
Domweihe und Abschied aus Schleswig
Im Herbst des Jahres 1890, nach der Vollendung aller Bauarbeiten, wurde der Dom neu eingeweiht. Die Kaiserin erschien, um an der Feier in der Kirche Teil zu nehmen. Ich stand vor ihr, als am Turmportal die Übergabe der Schlüssel erfolgte. Unmittelbar nach dem Gottesdienst überreichte mir der Vertreter des Kultusministers in der Turmhalle den roten Adlerorden vierter Klasse. Bei dem feierlichen Mahl im Oberpräsidium überbrachte der kommandierende General Graf Waldersee auch mir den Dank des Kaiers. Meine Eltern waren nach Schleswig gekommen und nahmen am Gottesdienst Teil. Mit ihnen fuhr ich am Tage darauf nach Eckernförde. Während der Abrechnung des Dombaues, im Dezember 1894, wurde ich zum Landbauinspektor ernannt. Damit war ich im vierzigsten Lebensjahre fest angestellter Baubeamter geworden.
Bald nachdem der Dombau vollendet war, erhielt ich vom Kirchenvorstand in Nienstedten den Auftrag, eine Kirche für Blankenese zu entwerfen. Ihrer feierlichen Einweihung im August 1896 wohnte ich bei, als ich Schleswig schon verlassen hatte. Daran schloß sich der Auftrag zum Entwurf für die Dankeskirche am Nordostseekanal bei Holtenau. Diese wurde im Oktober 1897 geweiht.
Im Frühling des Jahres 1895 machten die Schleswig-Holsteiner eine Huldigungsfahrt nach Friedrichsruh zum Fürsten Bismarck. Ich schloß mich dazu Herrn und Frau Münchow an. Der Oberförster Lange führte uns auf den Schlosshof und gab uns einen Platz, von dem wir gut sehen und hören konnten. Es war ein erhebender Augenblick, als die Tür vom Schlosse zum Altan geöffnet wurde, und nun der greise Fürst heraustrat und nach der begeisterten Begrüßung durch die anwesenden Verehrer zu sprechen begann. Nach seiner Rede durchschritt er die Menge, mit Tausenden einen Händedruck tauschend. Als auch ein junger Mensch sich hast herzudrängte und dabei andere Personen beiseite schob, sagte der Fürst barsch: „Nein, Ihnen gebe ich die Hand nicht.“ Als wir uns in den Zug setzten, um zurückzukehren, traf ich Herrn Dr. Neuber, der mich einst in seiner Klinik in Kiel behandelt und geheilt hatte.
Im Juni 1895 war mein Wirken in der schönen Stadt an der Schlei abgeschlossen. Mit Wehmut und Trauer im Herzen, aber auch mit Dank gegen das Schicksal, das mir eine so schöne Aufgabe zugeteilt und alles in gute Bahnen gelenkt hatte, auch mit Dank gegen alle Menschen, die mir Freundlichkeiten und Wohltaten erwiesen hatten, verließ ich die Stadt. Freunde begleiteten mich zum Bahnhof, und Tränen traten mir in die Augen, als ich nach Süden fuhr und die liebe alte Stadt Schleswig mit dem stolzen Dom hinter den Hügeln verschwand. Die Jahre in Schleswig gehören zu den schönsten meines Lebens.
Zwischenspiel im Berliner Ministerium
Ich war wieder nach Berlin in die Kirchenbauabteilung im Ministerium der öffentlichen Bauten berufen worden. Diese stand noch unter Adler, aber ein Teil der Kirchenbauten der Monarchie war an den Geheimrat Eggert, meinen alten Vorgesetzten und Lehrer in Straßburg, übergegangen. In der Abteilung arbeiteten damals vier Baumeister, deren Arbeiten durch meine Hände gingen. Ich wählte mir die Sachen aus, die ich selbst behandeln und erledigen wollte. Ganz nach meinem Geschmack war diese Stellung im Ministerium nicht. In Schleswig hatte ich ein völlig freies Leben geführt. Ich hatte mich dort an viel Bewegung an freier Luft gewöhnt, konnte hinausgehen, wann, so oft und wie lange ich wollte. In Berlin dagegen war ich gebunden. Es dauerte lange, bis ich mich an diese Bureautätigkeit am Schreibtisch und am Zeichenbrett gewöhnte.
Mit einigen Baumeistern des Ministeriums besuchte ich damals meinen Freund Angelroth, Baurat in Magdeburg. Bei meiner zweiten Anwesenheit in Magdeburg verweilte ich auch einige Stunden im Hause meines Studien¬freundes Schönfeld aus Detmold, der jetzt Baumeister, verheiratet und Vater mehrerer Kinder war, also erst jetzt den Namen „Papa Schönfeld“, den wir ihm in Berlin beigelegt hatten, mit Recht trug. Schönfeld war beim zweiten Staatsexamen ein kleines Missgeschick zugestoßen, das ihm damals viel Kummer bereitet hatte. Wir Bauführer mußten zu diesem Examen auch die Aufnahme eines Bauwerks einreichen. Schönfeld hatte einen reichen Erker des Rathauses in Lemgo aufgenommen. Die Zeichnung war in einem sehr großen Maaßstab gehalten, mehrere Meter lang und sehr breit, und konnte deshalb nicht wie die Studien¬zeichnungen in eine Mappe gelegt, sondern mußte gerollt und in eine lange runde Pappschachtel gesteckt werden. Diese Rolle wurde, wohl verschnürt und versiegelt, gleich¬zeitig mit der Mappe, in der die Studienzeichnungen lagen, an die Oberprüfungskommission gesandt. Von der Wirkung der prachtvoll gezeichneten und getuschten Aufnahme auf die gestrengen Herren der Kommission versprach sich Schönfeld das Beste und Höchste. Das Kunstwerk war aber auch wirklich mit viel Fleiß und Mühe angefertigt. Bei seiner Herstellung soll Papa Schönfeld, wie man spottete, auf dem Baue am Boden liegend gearbeitet haben. Bald darauf ging er in die Geschäftsräume der Kommission, um sich nach irgend etwas zu erkundigen. Da stand seine geliebte Rolle noch in der Ecke, so wie er sie abgegeben hatte, noch völlig unangetastet, wohl verschnürt und versiegelt. Man hatte vergessen, sie der Kommission mit vorzulegen, und es war auch keinem Menschen eingefallen, nach der fehlenden Aufnahme zu fragen. Diese Wahrnehmung hat Schönfeld tief betrübt. Sie war der Wermuttropfen in der Freude über das bestandene Examen.
Ich habe schon erwähnt, daß mir meine Tätigkeit im Ministerium nicht sonderlich behagte, weil ich zu sehr gebunden war. Da brachte der März des Jahres 1897 urplötzlich eine für mich höchst bedeutsame und folgenreiche Wendung. Doch bevor ich von dieser berichte, muß ich gestehen, daß ich auf dem Wege der Erzählung lange vorwärts geeilt bin, ohne zur Seite oder gar rückwärts zu schauen. Ich will daher einen Augenblick innehalten und nachzuholen versuchen und will berichten, wie sich inzwischen die Verhältnisse im Hause meiner Eltern auf der Zeche Heinrich Gustav bei Werne gestaltet hatten.
Was aus den Geschwistern wurde
Meine älteste Schwester Nanni verheiratete sich in der Zeit, wo ich in Berlin studierte, mit dem Kaufmann Ernst Baumbeck. Das jetzt in Oberkassel gegenüber Düsseldorf lebende Ehepaar hat zwei bis heute unverheiratete Töchter, die ältere Helene, die jüngere Margarete. Der Sohn, das älteste Kind, ist im Kriege gefallen. Er war in Hamburg verheiratet.
Der Mann meiner zweiten Schwester Hermine wurde der Bankbeamte Hermann Goldhorn in Elberfeld. Er wanderte nach Amerika aus und ließ seine Familie nachkommen. Im Jahre 1919 ist er in New-York gestorben. Dort wohnt meine Schwester noch heute. Bei ihr leben ihre unverheirateten Töchter Helen und Margarete. Die dritte Tochter Ella ist mit einem Amerikaner A. Pfingsten in Chikago verheiratet.
Helene, meine dritte und jüngste Schwester, hatte sich mit einem Ingenieur Georg Ewerbeck verlobt. Dieser folgte einem Rufe nach Venezuela. Da er seine Stellung nicht auf längere Zeit verlassen konnte, so folgte ihm meine mutige kleine Schwester über das Meer. Meine Mutter begleitete sie auf dieser Reise bis Hamburg, wo meine Schwester sich einschiffen wollte. In Hamburg traf ich, von Schleswig kommend, mit ihnen zusammen. In La Guayra, im Hause des Ministerresidenten, der meine Schwester aufgenommen hatte, fand die Vermählung statt. Nach einer Reihe von Jahren kehrte das Ehepaar zurück, weil mein Schwager eine Stellung in Graz angenommen hatte. Dann zogen beide mit ihren Kindern wieder über das Meer und ließen sich in Chile nieder. Dort lebt mein Schwager als Ingenieur in Santiago. Meine Schwester aber ist im Oktober 1917 im Hospital zu Valparaiso gestorben, ein Opfer des Ungeschicks des sie behandelnden Arztes. Töchter des Ehepaares sind Margarete und Johanne.
Mit meiner Schwester Hermine stehe ich in lebhaftem Briefwechsel. Als ich im Kriege auch arge unter der Lebensmittelnot zu leiden hatte, bereitete sie mir zuweilen durch die Sendung von Liebesgaben eine große Freude.
Meine Schwester Nanni besuchte eine Pension in Hannover. Hermine war in Halle und bildete sich daselbst zur Erzieherin und Kindergärtnerin aus. Helene studierte auf dem Konservatorium in Sondershausen. Sie war mit einer schönen Stimme begabt und hat oft in Konzerten gesungen.
Mein Bruder Heinrich besuchte zunächst die Schule in Werne und war dann einige Zeit bei Verwandten in Erfurt. Darauf besuchte er das Gymnasium in Bochum. Da er Ingenieur werden wollte, so bezog er das Technikum in Mittweida und später die technische Hochschule Charlottenburg. Dann nahm er Stellungen in Brückenbauanstalten an, in Braunschweig, Halberstadt, Wien und Hannover. Er heiratete in Halberstadt. Im September 1908 starb er in Hannover am Herzschlage. Seine Witwe heiratete zum zweiten Male und lebt jetzt als Frau Feise in Hildesheim.
Die Eltern
Mein Vater trat im Jahre 1896 in den Ruhestand, und meine Eltern zogen nach Schöneberg, weil ich damals in Berlin angestellt war. Sie hatten, wie sie sagten, nun lange genug auf dem Lande gelebt uns wollten jetzt in ihrem Alter von ihrem Leben noch etwas haben.
Gewiß war in den letzten Jahrzehnten in allen Verhältnissen meiner Heimat eine erhebliche Besserung eingetreten. Überall gab es da Läden, in denen man fast alles kaufen konnte. Auch die Verkehrsverhältnisse waren viel besser geworden. Aber meine Eltern wollten den Wechsel und haben ihn auch nie bereut, obschon ich bald nach ihrer Übersiedlung Berlin wieder verließ, um als Dombaumeister nach Bremen zu gehen. Sie lebten sich ein, sahen viel Neues und wurden auch oft von Verwandten und Freunden besucht. Mein Vater hatte zudem sein gutes Auskommen, denn der Harpener Verein belohnte seine treuen Dienste damit, daß er ihm als Ruhegeld bis an seinen Tod sein volles Gehalt auszahlen ließ.
Es scheint mir nun der rechte Ort, das Wesen meiner Eltern, so wie ich es erkannt habe, in dieser Lebensbeschreibung darzustellen.
Meine beiden Eltern waren fleißig, sparsam und anspruchslos. Das Ihrige hielten sie weise zusammen, immer bedenkend, daß nach guten Jahren auch einmal böse Tage kommen können. Sie sparten aber nicht nur für sich, sondern dachten beim Sparen immer an das Wohl und die Zukunft ihrer Kinder.
Mein Vater war ein aufrechter, ernsthafter und grundehrlicher Mann, bescheiden und pflichttreu. Niemals hat er den Versuch gemacht, mehr zu scheinen als er war, und nie hat er versucht, etwas zu erreichen, was zu erlangen ihm unmöglich schien. Von unredlichen Mitteln Gebrauch zu machen widerstand ihm. Schicksalsschlägen gegenüber fand er nicht immer die Kraft Widerstand zu leisten. Darum konnte er auch bei Misshelligkeiten und ernsten Bedrängnissen zaghaft werden. Er war leicht zufrieden zu stellen und freute sich aller Gaben und Errungenschaften, die ihm zu Teil wurden. Hilfsbereit und gefällig war er gegen Verwandte und Freunde, opferfreudig und opferbereit gegen unsere Mutter und seine Kinder. Mit großer Liebe pflegte er das Andenken an seine Eltern. Immer wieder erzählte er uns von ihnen und von dem Leben auf der Zeche Gewalt. Alle Menschen gegenüber war er freundlich, teilnehmend und wohlwollend, wenn sie es verdienten. In seinem Beruf war er stets auf dem Posten. Wie oft hat er mitten in der Nacht aufstehen müssen, wenn sich an einer Pumpe ein Schaden eingestellt hatte. Er beharrte treue, aber nicht starr und eigensinnig bei einem Entschluß.
Mein Vater war nüchtern und hielt in allen Dingen Maaß. Dem mäßigen Alkoholgenuß in Gesellschaft Anderer war er nicht abgeneigt. Ich habe ihn wohl angeheitert, aber niemals berauscht gesehen. Niemals habe ich auch bemerkt, daß er eine angesteckte Zigarre zu Ende geraucht hätte. Das Rauchen bot ihm nicht den geringsten Genuß. Er war sehr ruhigen Gemüts. Wurde er aber gereizt, dann konnte er auch heftig werden und nach echt westfälischer Art aus der Haut fahren. Dabei wurde er aber nie ungerecht. Bemerkte er an anderen Personen Fehler, dann war er oft geneigt, nach einer Entschuldigung zu suchen, zu mildern, Verwerfliches in ein besseres Licht zu stellen. Einmal habe ich ihn recht zornig gesehen. Er war im Begriff, in Geschäften zu verreisen und wollte einen mittags abgehenden Zug benutzen. Meiner Mutter hatte er gesagt, sie möchte ihm zu einer bestimmten Stunde das Mittagessen bereit halten. Mein Vater kam vom Schacht, schon zum Aufbruch bereit, und setzte sich an den Tisch. Das Essen aber kam nicht, und es war schon Zeit zu gehen. Endlich brachte meine Mutter, die sich wohl verhört oder in der Zeit geirrt hatte, langsam einen Teller Suppe. Nun hätte aber mein Vater schon aufbrechen müssen. Die Suppe war noch dazu heiß. Unwillig aß er schnell, hob dann den leeren Teller hoch und warf ihn mitten ins Zimmer, daß die Scherben weit davon flogen und der Kanarienvogel vor Schreck wie wahnsinnig von einer Ecke in die andere seines Käfigs flatterte. Dann sprang er auf und ging davon. Das hat mir damals gewaltig imponiert und von meinem Vater sehr gefallen.
In anregender Gesellschaft konnte er recht lustig sein. Er liebte die Musik. In jüngeren Jahren hatte er etwas Klavier gespielt, ich erinnere mich auch noch seiner Guitarre. Er erzählte gern harmlose Anekdoten, besonders aus der Provinz Sachsen, und warf oft witzige Bemerkungen in ein belebtes Gespräch. Hiervon nur ein einziges Beispiel. Ein junger Mensch renommierte, er habe in der Menagerie in Witten einen Löwen gesehen, der habe brüllen können, daß die Erde bebte. Da bemerkte mein Vater trocken und anscheinend ganz ernsthaft: „Wenn im Herbst die Obsternte da ist, dann lassen wir uns den Löwen kommen und führen ihn unter die Obstbäume. Dann brüllt er die Äpfel runter.“
Mein Vater hatte dunkles Haar und braunen Schnurr- und Vollbart. Sein Haar begann schon frühzeitig sich zu lichten. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens hörte er schwer. Ich schenkte ihm einmal ein Hörrohr, er legte es aber bei Seite.
Meine Mutter, die Thüringerin, war beweglicher als mein Vater. In allen Schwierigkeiten wusste sie ein Mittel, in allen Nöten einen Ausweg. Geänderten Verhältnissen konnte sie sich mit einer Leichtigkeit anpassen, die oft in Erstaunen versetzte. Darum fand sie sich auch leicht in Lagen, denen sich mein Vater nur schwer oder gar nicht anzupassen vermochte. Sie wußte, daß alle Erfolge nur auf Arbeit beruhen. Darum sagte sie oft zu mir: „Merke Dir das mal: Von nichts kommt nichts.“ Für ihre Kinder erstrebte sie das Höchste, das irgend erreichbar schien, und an das Erreichen der Ziele auf diesem Gebiet setzte sie ihre ganze Kraft. Ihrem Temperament konnte meine Mutter nicht immer Zügel anlegen. Das führte zuweilen zu Reibungen im Kreise unserer Familie. Das Plattdeutsch meiner Heimat verstand sie wohl, aber nie hat sie den Versuch gemacht, es zu sprechen. Zuweilen merkte man an der Aussprache eines Wortes, daß sie aus Thüringens Gauen stammte. Als sich bei meinem Bruder in sehr jugendlichem Alter eine leichte Rückgratverkrümmung zeigte und bei meiner jüngsten Schwester ein Schaden an einem Knie, fuhr sie, nachdem sie sich von unserem Hausarzt über die Art des Leidens hatte unterrichten lassen, mit diesen Kindern nach Köln und Bonn, um berühmte Ärzte zu befragen. Sie ging immer an die erste Quelle. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend war sie ihm Haushalt tätig, oft mit leiser Stimme ein thüringisches Volkslied summend. Staunenswert war ihr Gedächtnis. Noch in späten Lebensjahren wusste sie Gedichte und Aufsätze auswendig, die sie in der Schule als Mädchen gelernt hatte. Bis zu ihrem Tode war ihr Haar noch dunkelblond. Nur an den Seiten zeigte es sich in den letzten Jahren von einigen silbernen Fäden durchzogen. Meine Mutter hatte dunkelblaue Augen.
Beide Eltern blieben bis zu ihrem Tode rüstig. Ihrer Sparsamkeit ist es zu danken, daß ihre Kinder nach ihrem Tode in den Besitz von sehr willkommenen Geldbeträgen kamen.
Ich komme nun wieder auf meinen Lebenslauf zurück, den ich eine Zeit lang aus den Augen gelassen habe.
Dombaumeister in Bremen
In meiner Stellung und Tätigkeit in der Kirchenbauabteilung im Ministerium der öffentlichen Arbeiten blieb ich, bis die Wendung eintrat, auf die ich schon hingewiesen habe.
Im März 1897 hörte, daß in Bremen der Dombaumeister Max Salzmann gestorben sei. Diese Mitteilung nahm meine Teilnahme zunächst nur deshalb in Anspruch, weil ich Salzmann kannte. Von Schleswig aus hatte ich einmal Bremen, Verden und Bücken besucht und den damals im Umbau begriffenen Bremer Dom gesehen. Auch bei Salzmann war ich, der mich mit seinen Arbeiten bekannt machte. Als ich mich schon von ihm verabschiedet hatte, sah ich den kleinen Mann noch einmal im Dom umhergehen, und da beneidete ich ihn um seine große und schöne Aufgabe. Von Rechts wegen hatte ich hierzu aber gar keinen Grund, denn auch mir war in Schleswig eine wichtige Aufgabe zugefallen. Von jedem Tag ab bin ich aber mit Salzmann in loser Verbindung geblieben.
Als Adler am nächsten Tage zu mir kam, sprach ich mit ihm über den Todesfall. Er sagte mir, er habe Salzmann und die Bauherren des Domes in Bauangelegenheiten zuweilen beraten, und übermorgen werde der Bauherr Franz Schütte aus Bremen wiederkommen, um Rat von ihm zu holen. Diesmal handle es sich um die Wahl eines Nachfolgers für Salzmann. Fünf Baukünstler seien auf die engere Wahl gesetzt, er trage aber Bedenken, Herrn Schütte einen von ihnen zu empfehlen. Ob ich keinen geeigneten Nachfolger vorschlagen könnte? Da antwortete ich: „Jawohl, mich!“ Adler stutzte, sah mich an und kam bald auf etwas Anderes zu sprechen. Später sagte er: „Wenn Herr Schütte da ist, will ich Sie ihm vorstellen. Halten Sie sich bereit.“ Da schien es mir, als habe er die Absicht, mich zu empfehlen. Schütte kam, und nach einiger Zeit wurde ich gerufen und ging in Adlers Zimmer, wo Schütte sich befand. Ich sprach mit Beiden ein paar Worte. Dann kam Schütte zu mir in mein Zimmer. Da schien sein Entschluß, mich für den Bremer Dom zu verpflichten, schon festzustehen. Am anderen Tage kam er wieder und brachte den Entwurf zu einem Vertrage mit, den die Bauherren des Domes mit mir abschließen würden. Diese ganze Art gefiel mir wohl. Das war ein Mann von schnellem Entschluß, dem alles Kleinliche fern lag. Ich willigte ein, nach Bremen zu kommen und für die Zeit des Dombaues in die Dienste der Domgemeinde zu treten. Nun gab es für mich noch eine Frage. Meine Eltern waren nach Schöneberg gezogen, weil sie da in meiner Nähe waren. Nun wollte ich meinen Wanderstab wieder in die Hand nehmen und sie allein lassen. Was würden sie zu meinem Vorhaben wohl sagen? Als ich ihnen von dem Bremer Antrage Mitteilung machte, da verhielten sich meine Eltern so, wie ich es gewünscht und erwartet hatte. Nicht einen Augenblick dachten sie an sich. Nur mein Wohl kam ihnen in Betracht, und besonders meine Mutter war wohl damit zufrieden, daß ihr Sohn Baumeister werden sollte, noch dazu in er schönen alten Stadt Bremen, die sie von dem Besuch in ihren jugendlichen noch in so guter Erinnerung hatte. (1847)
Nach Schüttes Abreise beurlaubte mich der Minister, und am 1. April 1897 trat ich mein Amt als Dombaumeister in Bremen an. Ich sollte da nicht allein die Bauarbeiten am Dom weiterführen, sondern auch die am Schütting, die Salzmann ebenfalls begonnen hatte.
Meine Einführung durch Schütte in Bremen und am Dom ließ an Kürze nicht das Geringste zu wünschen übrig. So war ich denn in ein Wasser geworfen, dessen Abgründe und Untiefen mir völlig unbekannt waren, und mußte schwimmen. Die Aufgabe, deren Lösung ich in Bremen auf mich nahm, war von der in Schleswig gelösten sehr verschieden. Der Dom an der Schlei war ein Backsteinbau, an dem Granit und Sandstein eine ganz nebensächliche Rolle spielten. Anders der Dom in Bremen. Die Mauern dieses Baues waren ganz mit Sandstein bekleidet. Gemeinsam ist beiden Domen, daß ihre Teile aus verschiedenen, weit von einander entfernt liegenden Zeiträumen stammen. Am Dom in Schleswig erlebte ich den Beginn und das Ende der Arbeiten, in Bremen aber trat ich während des Umbaues das Erbe des verstorbenen Dombaumeisters an und mußte mich an das von ihm Geschaffene anschließen. Am Dom und am Schütting habe ich aber von Anfang an nach eigenen Entwürfen gebaut, wo es galt, einen neuen Teil im Äußeren oder im Inneren zu schaffen.
Salzmann hatte die Westfront des Domes ganz und die Nordseite nahezu vollendet. Das Brautportal war, als ich nach Bremen kam, gerade in der Ausführung begriffen, und von den Vierungspfeilern hatte Salzmann zwei erneuert. Ich vollendete das Brautportal, entwarf die Tür mit ihrem reichen Beschlage, baute die beiden anderen Vierungspfeiler wieder auf, errichtete den Giebel des nördlichen Kreuzflügels und den Vierungsturm und stellte die Kapelle an der Nordseite des Chores, die heutige Küsterwohnung, wieder her. Bei der äußeren Gestaltung des Vierungsturmes habe ich mich an den vorhandenen Salzmannschen Entwurf angelehnt, da keine Veranlassung war, davon erheblich abzuweichen.
Der Schütting war, als ich nach Bremen kam, seiner alten Fassaden von unten bis zur Höhe des Hauptgesimses entkleidet. Ich habe die neuen Fassaden mit dem von mir entworfenen Portal und dem Treppenvorbau aufgeführt.
Bei allen Maaßnahmen am Dom ließen mir die Bauherren freie Hand, denn ich hatte mir vorher eine Tätigkeit ohne künstlerische Bevormundung zur Bedingung gemacht. Aller Angelegenheiten Herr und Lenker war der Bauherr Franz Schütte, sowohl beim Dombau als auch bei der Wiederherstellung des Schüttings. Ich bin immer vortrefflich mit ihm fertig geworden und fand für alle meine Vorschläge bei ihm die kräftigste Unterstützung. Hatte Schütte sich von der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit irgend einer Angelegenheit überzeugt, dann war ihre Durchführung gesichert. Die Bauarbeiten schritten schnell vorwärts. Nebenher nahm mich die Klosterkammer in Hannover in Anspruch. Für sie hatte ich in Verden und Lüneburg zu tun.
Ich komme nun zu einem Ereignis, das tief in mein Leben eingriff und nicht meinen Beruf, sondern allein meine Person betraf. Mein Freund Peter Kornelius, ein Bruder der Frau meines Freundes und Studiergenossen Starke, ein Enkel des großen Malers, heiratete in Arnsberg eine Tochter des Regierungs- und Baurates Bormann. E lud mich zu der Feier ein. Bei dieser Hochzeit lernte ich die drei Töchter der Frau W. Lohmann in Elberfeld kennen. Der verstorbene Vater hatte auf einer Bergschule Bergfach studiert und eine Zeit lang als Bergbeamter Dienst getan. Darauf hatte er die Tochter eines Herrn Klophaus in Elberfeld geheiratet, seinen Wohnsitz in diese Stadt verlegt und daselbst das Erbe seiner Frau, bestehend aus einem Hôtel und Häusern, verwaltet. Er stammte aus Wengern an der Ruhr. Glieder dieser Familie gibt es noch in Witten, Bommern, Hagen, Elberfeld und an anderen Orten. Das Wesen und die Erscheinung der mittelsten Tochter Amalie nahmen mich gefangen. Ich begleitete die Damen nach Elberfeld, wo meine Schwester Hermine verheiratet war, und kehrte dann wieder nach Bremen zurück. Bald kam zwischen uns ein Briefwechsel in Gange, der zu einem Besuch in Elberfeld, der zu einer weiteren Annäherung und endlich zur Verlobung führte. Ich war damals 41 Jahre alt, meine Braut 20 Jahre; es bestand also ein erheblicher Altersunterschied. Ich fuhr nun oft nach Elberfeld. Einmal nam ich meine Braut auch mit nach Köln, wo die beiden Erztüren in der Westfron des Bremer Doms modelliert und gegossen wurden. Unsere Hochzeit fand am 19. Februar des Jahres 1898 in Elberfeld statt. Meine Eltern nahmen an der Feier Teil, und von Schlewsig waren meine Freunde Angelroth, Geyer und Wolf erschienen. Angelroth, Ältester und Wortführer, hielt eine feierliche Rede, bei der er leider gründlich stecken blieb. Als ich nach einer in Berlin verlebten Woche mit meiner Frau nach Bremen kam, hatte meine älteste Schwägerin unsere Wohnung schon so gerichtet, daß wir kein Möbelstück an eine andere Stelle zu rücken das Bedürfnis fühlten. Unser Haus lag an der Feldstraße. Meine Schwiegermutter hatte es kurz vorher gekauft.
Im November 1898 wurde unser erster Sohn Franz geboren, im Oktober 1901 unser zweiter Sohn Liemar, dieser einige Wochen nach meiner Übersiedlung nach Berlin. Der älteste erhielt seinen Namen nach dem Bauherrn Franz Schütte, der jüngste nach dem im Jahre 1106 gestorbenen Erzbischof Liemar, der nachweislich am Dom gebaut hat, und dessen Leiche bei den Arbeiten im südlichen Kreuzflügel des Domes gefunden wurde. Wir nannten unseren zweiten Sohn nach ihm, weil der Name meiner Frau so sehr gefiel.
In Bremen hatte ich bald einen großen Kreis von Bekannten. Den Maler und Dichter Arthur Fitger lernte ich bei der Ausmalung des großen Saales im Künstlerverein, bei der ich auch beteiligt war, und beim Umbau des Schüttings kennen. Der oft von Rechterfleth herüber kommende Hermann Allmers, der sogenannte Marschendichter, besuchte mich einst auf meinem Arbeitszimmer. Mit jugendlichem Ungestüm trat er herein und bat mich um einen Stein vom Dom Karls des Großen. Ich verstand nicht, was er meinte, denn Allmers hatte eine Hasenscharte und sprach sehr undeutlich. Zunächst nahm ich an, er wär ein Landmann, der Schutt vom Dom abfahren wollte. Dann aber sah ich das kleine breitschultrige Männchen mit der gewaltigen Raubvogelnase etwas misstrauisch an und wurde bedenklich. Endlich kam ich mit Hülfe eines Angestellten dahinter, daß ich Hermann Allmers vor mir habe, der gekommen war, einen Stein vom alten Bremer Dom, der Gründung Karls des Großen, zu erbitten. Er woltle dem Frankenkaiser in Rechtenfleth, wo nach seiner Meinung in einem der Sachsenkriege ein Übergang über die Weser stattgefunden hatte, am Deich ein Denkmal setzen, und der Stein vom alten Dom sollte der Grundstein des Denkmals werden, so sagte er. Nun wurden wir bald einig. Ich sandte ihm einen Sandsteinblock aus einem der ältesten Teile des Domes, und Allmers fühlte sich hoch beglückt. Später war ich einmal in seinem künstlerisch ausgestalteten Hause in Rechtenfelth. Ich sollte ihm behülflich sein, im alten Schlosse der bremischen Erzbischöfe in Hagen, in dem jetzt der Amtsrichter wohnte, mittelalterliche Wandmalereien aufzudecken. Wir fuhren über Land nach Hagen. Aus der Freilegung von alten Bildern wurde aber nichts, denn es handelte sich, wie ich sofort sah, um später wieder übertünchte Pinseleien eines ländlichen Anstreichers. Hier im alten Schlosse der Erzbischöfe habe ich Allmers, der in einer tiefen Fensternische Platz genommen hatte, aus seinen Werken vorlesen hören. Es war eine schöne Stunde. Der Sprachfehler des Vortragenden hat mich damals nicht gestört.
Meine Frau und ich wurden befreundet mit der Familie des Archivars Dr. W. v. Bippen, eines Mannes, der auch in der mittelalterlichen Baukunst sehr bewandert war und an den Bauarbeiten am Dom regen Anteil nahm. Im August dieses Jahres 1923 ist er nach längerem Siechtum heimgegangen. Schon im Anfange meiner Tätigkeit in Bremen lernte ich hier meinen besten Freund, den damaligen Baumeister, jetzigen Staatsbaurat a.D. August Sinzig kennen, den ich noch jetzt die Freude habe oft zu sehen. In Leid und Freude bin ich mit ihm unzertrennlich verbunden. Seine vortreffliche Frau ist vor einigen Jahren in die Ewigkeit abberufen worden. Sie hat bei allen Menschen, die ihr näher gestanden sind, ein liebevolles Gedenken hinterlassen. Auf dem schönen Riensberger Friedhof ist ihre Asche zur Ruhe beigesetzt.
Mit den Bremischen Baubeamten wurde ich im Architekten- und Ingenieurverein bekannt. Damals lebte noch der Oberbaudirektor Franzius, einer von den wenigen Technikern, enen ein Denkmal gesetzt wurde.
Mein ältester Sohn Franz war noch nicht ein Jahr alt, da machten meine Frau und ich im Herbst 1899 eine Reise nach Italien, unsere verspätete Hochzeitsreise. Wir kamen zuerst nach München, genossen dort mit einem Maler Huber, jetzt Professor an der Akademie in Düsseldorf, die Freuden des Oktoberfestes und fuhren dann über den Brenner nach Bozen, Verona, Vicenza, Venedig und Ravenna, dann nach Rom und Neapel. Leider wurde ich auf dieser Reise von einer Mandelentzündung arg belästigt. In Kapri zwang mich dieses Übel sogar, ein paar Tage bei schönstem Wetter das Bett zu hüten. Der Heimweg führte uns über Rom nach Florenz. Hier erst wich die Anschwellung, nachdem ein Arzt einen Einschnitt gemacht hatte. Da nun der Geburtstag unseres Sohnes sich näherte, so drängte meine Frau zur Rückkehr. Ohne Aufenthalt ging es wieder über die Alpen, dieses Mal aber über den St. Gotthardt. Am Tage vor seinem Geburtstage konnten wir unseren Sohn, der unter den Händen einer Schwester meiner Frau inzwischen prächtig gediehen war, wieder in die Arme schließen.
Meine Schwiegermutter hatte ihre Heimat Elberfeld verlassen und in Bremen mit einer Tochter und einem Sohn an der Bismarckstraße eine Wohnung bezogen. Mit ihr habe ich bis zu ihrem in Berlin erfolgten Tode stets im besten Einvernehmen gelebt.
Der Architekten- und Ingenieursverein in Bremen gab im Jahre 1900 zum Verbandstage der Vereine ein Werk heraus: Bremen und seine Bauten. Für dieses hab ich die Abhandlung über die alten Kirchen geschrieben.
Franz Schütte wollte die untere Halle des Künstlervereins ausmalen lassen. Um hierzu geeignete Künstler zu gewinnen, fuhr ich nach München. Die in Aussicht genommenen waren aber mit anderen Arbeiten beschäftigt. So wurde die Bemalung dem Münchener Maler Selzer, später Professor in Nürnberg, übertragen. Die Malerei ist, wie auch die Fitgerschen Bilder im großen Saal, bei dem Brande des Künstlervereins im Jahre 1915 verloren gegangen.
Das Äußere des Domes war im Jahre 1900 in der Hauptsache fertig gestellt. Nun nahm ich auch die Instandsetzung des Innern in die Hand. Es war der Plan aufgestellt, das Innere auszumalen. Arthur Fitger, den die Sache gar nichts anging, glaubte allerdings, es sei unumgänglich notwendig, daß er seine warnende Stimme dagegen erhöbe. Schütte aber ließ sich nicht irre machen. Vorher hatten uns reiche Stiftungen in den Stand gesetzt, die schon vor Jahrzehnten begonnene Ausschmückung des Domes mit farbigen Glasmalereien fortzusetzen. Einen Teil dieser neuen Verglasungen lieferte der Professor Linnemann in Frankfurt a. Main. Er kam einmal im Herbst nach Bremen und fertigte hier Vorentwürfe an.
Da habe ich ihm oft nach vollendetem Tagewerk auf dem Freimarkt und im Ratskeller lange Gesellschaft leiste müssen. Er war ein Freund feuchtfröhlicher Sitzungen und ein vortrefflicher Gesellschafter voller Witz und Schnurren. Die Entwürfe zur Ausmalung des Domes lieferte der Professor H. Schaper in Hannover.
Er kam während der Ausführung durch hiesige Maler oft nach Bremen, und ich habe mit diesem liebenswürdigen, bei aller Meisterschaft bescheidenen Künstler in Freundschaft verkehrt. Wir waren einmal zusammen in Bücken bei Hoya, um die dortige alte, vor Jahrzehnten wiederhergestellte Kirche zu besichtigen, und als ich einige Jahre später in Bremen wieder mit ihm zusammentraf, nahm er mich mit nach Aachen, wo er dem Karlsverein Entwürfe zur Ausschmückung der karolingischen Palastkapelle mit Mosaiken vorlegte. Schaper und Linnemann sind längst gestorben.
Im Auftrage des Herrn Schütte habe ich den Turmbläserbrunnen am Dom, dicht am südlichen Turm, entworfen und ausführen lassen. Die Gruppe hat der Bildhauer Dennert in Berlin modelliert, von dem auch die Kindergruppe im Hofe der Meierei im Bürgerpark stammte.
Zur Zeit der Wiederherstellung des Domes waren Bauherren:
Schütte, Adam, Nielsen und Kulenkampff.
Dompastoren waren:
Schenkel, Schlütting, Sonntag, Bock und Mauritz.
Der letztere trat sein Amt am Dom an, als ich in Bremen Dombaumeister wurde und ist jetzt Hauptpastor. Die übrigen Pastoren mit Ausnahme des Pastors Schlütting und die Bauherren weilen nicht mehr unter den Lebenden.
Der Dom wurde am 22. September des Jahres 1901 feierlich wieder eingeweiht. Damit war meine Tätigkeit am Bremer Dom abgeschlossen. Es war eine Tätigkeit, die mir viele Freuden gebracht und volle Befriedigung gewährt hat. In diesen Jahren war es mir beschieden, an zwei hervorragenden Monumentalbauten Bremens völlig frei künstlerisch zu wirken. Und schön ist es für mich jetzt in meinen alten Tagen, daß ich diese beiden alten Bauten und das, was ich in jenen glücklichen Jahren geschaffen habe, täglich sehen kann. Trete ich jetzt in den Dom, dann ist es mir, als hörte ich ein Lied mit einer alten, lieben, mir vertrauten Melodie. Für mich hat jede Wand, jeder Pfeiler, jedes Gewölbe, jedes Bildwerk, ich möchte sagen jeder Steine seine eigene, mir wohl bekannte Geschichte, an die sich Erinnerungen knüpfen.
Zurück ins Berliner Ministerium
Nach der Vollendung der Arbeiten konnte ich wieder in den preußischen Staatsdienst zurück-kehren. Auf eine Anfrage aus dem Ministerium der öffentlichen Arbeiten erklärte ich mich bereit, in den Dienst des Riechsamtes des Innern zu treten und bei dieser Behörde den Bau des von den Berliner Architekten Solf und Wichards entworfenen neuen Patentamtes zu leiten, eines großen Gebäudes, das an der Gitschiner Straße errichtet werden sollte. Ich ergriff gern diese Gelegenheit, eine Zeit lang den Kirchenbau zur Seite zu legen und die neuesten Bauausführungen kennen zu lernen. Zudem hegte ich die Hoffnung, daß mich das Reichsamt auch mit Entwurfsarbeiten beschäftigen werde, und diese Hoffnung hat mich auch nicht getrogen.
Ich begab mich allein nach Berlin und trat in das Reichsamt des Innern als von Preußen beurlaubter Beamter ein. Das Amt stand damals unter dem Staatssekretär Posadowsky-Wehner. Meine Frau blieb vorläufig in Bremen, weil die Geburt eines zweiten Kindes bevorstand. In Berlin wohnten wir zunächst an der Bambergerstraße, dann an der Neuen Bayreutherstraße. Beide liegen nicht weit vom Viktoria-Luisenplatz. In der ersteren Wohnung war auch meine Schwiegermutter Frau Lohmann unsere Hausgenossin, bis sie eine eigene Wohnung mietete.
Zwei Wochen war ich im Reichsamt tätig, da sandte mir meine Frau die Drahtnachricht, daß uns der zweite Sohn geboren sei. Ich eilte sofort nach Bremen und wurde am Bahnhof von unserem Mädchen und meinem dreijährigen Sohn Franz abgeholt, der sich aber nicht im Geringsten für seinen Vater, sondern einzig und allein für die fauchenden und zischenden Lokomotiven interessierte.
Im Reichsamt erfüllte sich schon in den ersten Tagen mein Wunsch, mit Entwurfsarbeiten beschäftigt zu werden. Ich zeichnete die Pläne für die neue biologische Anstalt für Land- und Forstwirtschaft bei Dahlem. Daran reihte sich der Entwurf für die Gebäude der bakteriologischen Anstalt in Groß-Lichterfelde West und der Plan zum Aufsichtsamt für Privatversicherungen am Ludwigsplatz in Wilmersdorf. Soweit mir die Bauleitung des Patentamtes Zeit ließ, beaufsichtigte ich die Ausführung dieser Bauten. Endlich wurde ich auch mit der baulichen Unterhaltung der Dienstgebäude der Ämter in Berlin betraut, die dem Reichsamt unterstanden.
Das Kaiserliche Patentamt, damals der größte Bau in Berlin, wurde sehr schnell fertig gestellt. Bald nach seiner Vollendung erhielt ich den Kronenorden dritter Klasse.
Im Reichsamt bearbeitete ich die Angelegenheiten der Wohnungsfürsorge für das Reich, die technischer Natur waren. Ferner habe ich einen großen, reich geschnitzten Schrank aus Eichenholz entworfen, den der Kaiser dem germanischen Museum geschenkt hat. In diesem Schrank werden die Nachbildungen der Siegel der deutschen Kaiser aufbewahrt. Meinen Entwurf zum Aufsichtsamt für Privatversicherungen hatte der Kaiser, als er ihm vorgelegt wurde, mit Bleistiftbemerkungen versehen. Wenn diese auch von Urteilsfähigkeit zeugten, so schien es mir doch verwunderlich, daß einem Monarchen, bei dem künstlerische Durchbildung doch nicht zu den selbstverständlichen Dingen gehört, das Recht zusteht, in eine baukünstlerische Arbeit hineinzukorrigieren.
Während meiner Tätigkeit am Dom in Bremen hatte ich im Auftrage des Magistrates der Stadt Emden einen Entwurf zur Wiederherstellung des Emdener Ratshauses angefertigt. Als ich nun in Berlin im Reichsamte tätig war, stand ein Besuch des Kaisers in Emden bevor. Bei dieser Gelegenheit sollten ihm auch meine Entwürfe vorgelegt werden. Der Oberbürgermeister Fürbringer schrieb mir und fragte, ob ich dazu nach Emden kommen wolle. Ich antwortete ablehnend. Warum, das ist mir bis heute noch unerklärlich. Als der Entwurf zu dem Nürnberger Schrank fertig vorlag, sollte ich die Zeichnungen dem Kaiser vorzeigen und erklären. Es wurde aber nichts daraus. Wie das kam, weiß ich bis heute noch nicht. Bald darauf versprach man mir, ich sollte für den Entwurf des Schrankes und die Überwachung seiner Ausführung vom Reichsamte das Steinmannsche Werk über die Sixtinische Kapelle im Vatikan zum Geschenk erhalten. Es blieb bei dem versprechen, und auf das Buch warte ich heute noch. So sind, wie der Leser sieht, auch in meinem Leben verpasste Gelegenheiten und unerfüllte Hoffnungen zu verzeichnen. Sie haben mich aber nie beschwert und stören auch jetzt meine Nachtruhe nicht im mindesten.
Als Kuriosum sei hier erwähnt, daß damals in einem Sitzungssaal des Reichsamtes noch, als lebten wir noch in der Biedermeierzeit, vor jedem Platz neben dem Papier ein von kundiger Hand zugeschnittener Gänsekiel zum Schreiben lag.
Wenige Wochen nach meinem Eintritt in das Reichsamt, am Weihnachtsabend 1901, wurde mir meine Ernennung zum königlichen Baurat mitgeteilt.
In den ersten Jahren meiner Tätigkeit in Berlin sah ich abends im Kaffee von Josty am Potsdamer Platz oder in der Weinstube von Frederich zuweilen die kleine Excellenz, den Maler Menzel. Der Alte sah immer unwirsch aus und machte den Eindruck, als sei mit ihm nicht gut Kirschen essen. Im Jahre 1905 sah ich den Leichenzug mit dem Sarge des großen Malers, als er sich über die Brücke am Halleschen Tor hinweg nach einem der nahegelegenen Friedhöfe bewegte.
Im Jahre 1904 teilte mir der Ministerialdirektor Richter mit, er beabsichtige, mich enger an das Reichsamt zu fesseln. So wurde ich mit meiner Einwilligung Reichsbeamter und zwar Kaiserlicher Regierungs- und Baurat und ständiger Hülfsarbeiter im Reichsamte des Inneren. Am ersten Pfingsttage ließ mich der Graf v. Posadowsky kommen und teilte mir meine feste Anstellung im Reichsamte mit.
An die Stelle des Familienverkehrs der Beamten unter sich hatte der Staatssekretär eine Einrichtung gesetzt, die uns allen willkommen war. Wir Beamte trafen uns einmal im Winter mit unseren Frauen in irgend einem Saal mit Nebenräumen zu einem Abendessen mit Unterhaltung und Tanz. Meist war ich zu den parlamentarischen Abenden in der Wohnung des Staatssekretärs geladen. Die Geburtstage des Kaisers feierten wir beim Staatssekretär. Zu feierlichen Gelegenheiten kamen wir in Uniform. So brachten wir etwas äußeren Glanz und frohe Farben in das schwarze Meer der Fräcke. Hin und wieder ließ man sich auch mit seiner Frau Nachmittags in der Familie des Staatssekretärs sehen oder nahm auf Einladung an einer Gesellschaft in dem großen Garten des Reichsamtes Teil.
Von einem Essen am Geburtstage des Kaisers, an das sich noch eine längere Sitzung am Biertische geschlossen hatte, kam ich einmal nach Hause. Ich trat in das Schlafzimmer und begann die Uniform auszuziehen. Das hatte aber einige Schwierigkeiten. Ich glaubte meine Frau in ihrem Bette lachen zu hören und sagte: „Ja Du hast, lache nur über mich, denn ich mag Dir in diesem Aufzuge gewiß komisch vorkommen.“ Ich erzählte ihr dann ausführlich von dem Feste und von dem Bierabend, der sich daran angeschlossen hatte. Als ich sie nun fragte, wie sie den Nachmittag und Abend mit den Kindern verbracht habe, antwortete sie nicht, und da merkte ich erst, daß ihr Bett leer war. Bald darauf kam sie nach Hause, sie hatte ihre Schwester besucht.
Ihre ältere Schwester hatte einen Berliner Maler Frieling geheiratet, ihre jüngere Schwester einen Holländer van den Arend, Maler und Rentner. Beide sind von diesen Männern geschieden.
Ausstellung in Petersburg
In Petersburg wurde eine Ausstellung genannt „Das Kind“ vorbereitet. Das Reichsamt förderte diese Veranstaltung, und ich erhielt den Auftrag, die künstlerische Ausschmückung des den Deutschen zugewiesenen großen Saales im taurischen Palast in die Hand zu nehmen. Als Grundlage erhielt ich nichts als einen Grundriß des Saales mit einem russischen Maaßstab. In allen geschäftlichen Angelegenheit hatte ich mit dem Berliner Großkaufmann Manheimer zu tun, der an dem Unternehmen stark beteiligt war. Mein Plan war, den Raum in seinem unteren Teil ganz mit einem sommerlichen Stoff zu bekleiden und die Mauerpfeiler mit farbigen Malereien, Darstellungen aus dem Leben und Spiel des Kindes, zu schmücken. Die Bilder malte mein Schwager Frieling. Die Sache hatte große Eile. Kaum war alles eingepackt, dann fuhr ich mit einem Herrn Büsemann, dem Sekretär eine Gesellschaft zur Hebung der deutsch-russischen Handelsbeziehungen (ich glaube, so hieß sie) nach Osten, begleitet von einem geschickten Tischlermeister, der schon in ähnlichen Angelegenheiten in Petersburg tätig gewesen war.
Alles Erdenkliche, das wir bräuchten, nahmen wir in Kisten mit, sogar Nägel und Schrauben, ja sogar einen Weihnachtsbaum mit seinem Schmuck, denn in Petersburg war alles enorm teuer. Der Baum sollte im Ausstellungsraum das nahende Weihnachtsfest verherrlichen helfen. Pelze liehen wir uns in einem Berliner Geschäft. Leider merkte ich zu spät, daß der von mir ausgewählte sehr stark die Haare ließ, sodaß ich gezwungen war, stets eine Bürste mit mir zu führen, um meinen Anzug zu reinigen. Wir wohnten in Petersburg im europäischen Hôtel. Im taurischen Palast machte ich mich mit Hülfe des Tischlermeisters und von ihm angeworbener russischer Arbeiter sogleich ans Werk. Die Österreicher hatten ihre Ausstellung schon nahezu vollendet. Sie strahlte, sobald es dunkel wurde, im Glanze vieler Glühlampen, während es bei uns armselig und trübe aussah, wie in der Schenke eines weltentlegenen Gebirgsdorfes. Ich saß an einem der ersten Abende im europäischen Hof einigen Herren gegenüber, die auch irgendwie an der Ausstellung beteiligt waren und sich sehr ungeniert, bedauernd und spottend über die Ausstellung der Deutschen aussprachen, indem sie sich hoch und heilig versicherten, die Deutschen würden zum Eröffnungstage nicht fertig werden. Aber an demselben Tage hatte mir in der Ausstellung ein Russe gesagt: „Sie werden sehen, die Deutschen kommen [als] die letzten, aber sie werden [als] die ersten fertig.“ Am Tage der Eröffnung war bei uns auch alles bereits.
Viele Stunden der trüben Petersburger Wintertage verbrachte ich im taurischen Palast, denn immer gab es etwas zu tun. An einem der letzten Tage mußte ich noch Soldatentuch zur Belegung der von uns gezimmerten Tische kaufen, auf denen die Gegenstände aufgestellt werden sollten. Endlich sah ich mich noch gezwungen, die Gegenstände mit aufzustellen, denn von den Ausstellern ließ sich Niemand blicken. Da ist mir im Unwillen oft ein zorniges Wort über die Lippen gekommen.
Meine Sache war es auch, dafür zu sorgen, daß das Ganze auch einen guten Eindruck machte und nicht aussah, wie ein Warenlager in einer Kleinstadt. Ganz langsam kam Ordnung und ein wenig Schönheit, Glanz und Schimmer in das Chaos. Zu allerletzt habe ich noch ein von Berlin mitgebrachtes, blind gewordenes Wappenschild mit dem deutschen Reichsadler nachgemalt und neu vergoldet.
Zum Verkehr mit unseren Helfern, den sehr anstelligen russischen Arbeitern, hatten wir einen Deutschrussen angenommen, einen verunglückten Kandidaten der Theologie. Der rauchte den ganzen Tag Zigaretten und saß stundenlang schwatzend im Ausschank. Außerdem verstand er es vortrefflich, die Arbeiter schlecht zu behandeln und rebellisch zu machen. Plötzlich legten diese die Arbeit nieder, und nur mit Mühe gelang es mir, sie zu beruhigen.
Unsere Hauptstütze war ein ehemaliger Löwenbändiger, ein Hamburger, der gelernt hatte, wilde Tiere zu zähmen und zu behandeln, konnte also auch mit Russen umgehen. Und russische Art hatte er auf seinen Fahrten in dem weiten Reiche gründlich kennen gelernt. Von diesen Reisen erzählte er uns die unglaublichsten Geschichten. Einmal führte er uns auch durch das ihm wohl bekannte nächtliche Petersburg.
Große Schwierigkeiten bereitete es mir, die für die deutsche Ausstellung ankommenden und auszustellenden Waren zu erhalten, denn die Kisten durften nur von russischen Zollbeamten geöffnet werden, und diese Herren kamen erst sehr spät zum Dienst und ließen sich zur Verhandlung viel wichtigerer Angelegenheiten zunächst einmal im Ausschank nieder. Wie oft habe ich sie gebeten, uns Kisten öffnen zu lassen, damit wir in Tätigkeit kämen, aber ich bat immer vergeblich. Da fand ich endlich einen Ausweg. Ich setzte mich morgens zu ihnen und beteiligte mich an der Unterhaltung, die sie in meiner Gegenwart deutsch führten. Sie boten mir freundlich von ihrem Thee an. Der Ausschank von Bier war im Palast streng verboten. Man goß mir in mein Theeglas eine bierfarbige Flüssigkeit, die nicht dampfte. Ich schmeckte, es war tatsächlich Bier und ich war, was ich werden wollte, Mitwisser des Geheimnisses. Von da ab wurde ich schon am Morgen, sobald diese Pflichttreuen Herren Beamten kamen, mit Waren versehen und konnte, wenn das Dunkel der matten Helligkeit des Wintertages gewichen war, mit dem Aufstellen beginnen.
Nach Petersburg kam in jenen Tagen auch Herr Dr. Milkau aus Berlin, der Vertreter des Preußischen Kultusministers, ehemals Bibliothekar an irgend einer der kleinsten norddeutschen Universitäten, ich glaube Greifswald, damals Hilfsarbeiter im Kultusministerium, jetzt, da ich dieses schreibe, Bibliothekar der großen Bibliothek in Berlin.
Er kam gerade, als die gröbste und meiste Arbeit schon getan war. Es kamen auch noch andere Leute, die sich bei uns zu schaffen machten, umherstanden, überflüssige Fragen stellten und uns aufhielten, wenn uns die Arbeit auf den Nägeln brannte. Was sie mit der Ausstellung zu tun hatten, habe ich bis heute noch nicht ergrübeln können. Ebensowenig weiß ich, ob besagter Herr Milkau wirklich der Vertreter des Kultusministers war, oder sich nur für den Vertreter hielt.
Herr Busemann, der tätig seine Zeit der Pflege und Anknüpfung deutsch-russicher Handelsbeziehungen widmete, stießen in Petersburg ein paar kleine Mißgeschicke zu. Wir fuhren morgens schon frühzeitig vom Hôtel zum taurischen Palast, ein Jeder in einem kleinen und engen, mit einem flinken Pferd bespannten Schlitten. Der Held dieser Geschichte setzte sich an einem trüben Wintermorgen auch in ein solch tückisches Vehikel und raste alsbald in schnellster Gangart davon. Er besah sich im Fluge die hohen Gebäude und achtete dabei nicht auf den Weg. Als der Schlitten plötzlich scharf um eine Ecke bog, flog er hinaus und fiel einige Meter seitwärts in den weichen Schnee. Der Führer des Schlittens merkte das nicht und raste weiter. Als er aber zum taurischen Palast gekommen war und sich nach seinem Fahrgast umsah, um seinen Lohn in Empfangg zu nehmen, war dieser verschwunden. Nach einiger Zeit kam dann auch Herr Busemann, erwartet von dem Rosselenker, der wohl schon oft einen Fahrgast so verloren haben mochte.
Ein anderes Mal nahm herr Busemann einen Schlittenführer, der etwas Deutsch sprach, um zu irgend einem Ministerium zu fahren. Diesem sagte er, er sollte vor dem Ministerium auf ihn warten. Buseman kam an sein Ziel und stieg aus. Der Schlittenlenker fuhr etwas weiter und wird dann wohl eingeschlafen sein. Als Busemann das Gebäude verließ, ging er zu einem davor haltenden Schlitten, geriet aber an einen falschen. Kaum hatte er Platz genommen, so fuhr dieser pfeilschnell davon. In einem weit entlegenen Stadtviertel hielt er endlich, und als Busemann sich den Mann auf dem Bock näher ansah, da erkannte er, daß er einen falschen Schlitten, und gleichzeitig machte der Schlittenmann die Wahrnehmung, daß er einen falschen Fahrgast erwischt hatte.
Ich fand Zeit, die Särge der Zaren in der Festungskirche zu sehen, die großen Kathedralen zu besuchen und dort den herrlichen Gesang zu hören, und zu sehen, wie Andächtige bei schwachem Kerzenlicht den kostbaren, mit Brillanten überladenen Heiligenbildern ihre Gebete verrichteten. Ich sah aber leider nicht die Sammlungen der Eremitage. Sie zu besuchen hatte ich mehrmals aufgeschoben, und schließlich kam ich nicht dazu, weil eine Magenverstimmung mir die Lust an weiteren Besichtigungen nahm.
Vorher fuhr ich an einem Sonnabend mit Busemann nach Moskau. Dort hatte er Bekannte, die uns ihre Zeit widmeten. Nach einer Besichtigung der Stadt und des Kremls folgte ein starkes, echt russisches Frühstück mit den üblichen Schnäpsen und Zigaretten. Nachmittags fuhren wir mit einer Troika zu einem außerhalb der Stadt gelegenen Vergnügungs-Lokal, wo wir auch in enge Berührung mit einer sogenannten, echten oder falschen, Zigeunerkapelle kamen. Spät erst kehrten wir wieder in unser Hôtel zurück, ich leider ohne meine kostbaren Gummischuhe, die ich bei der Reise noch verloren hatte. Am Morgen dieses Sonntags sahen wir, wie viele Menschen mit leeren Flaschen harrten, bis die Stunde des Verkaufes gekommen war, oder die sich in der Kälte im Freien auf Brücken niedergelassen hatten. Dann genossen wir von der Höhe des Kremls einen herrlichen, unvergesslichen Blick auf das beschneite, im Strahl der Sonne daliegende Moskau mit den blitzenden Kuppeln seiner vielen Kirchen.
Als in Petersburg die Ausstellung fertig dastand, wurde in einem der Nebesäle ein Gottesdienst abgehalten mit vielen Teilnehmern, über den Beziehung zur Ausstellung ich völlig im Dunkeln blieb. Dann ließ sich die ganze Gesellschaft nach russischem Brauch photographieren. Ich aber schlug mich vorher seitwärts in die Büsche.
Eine der Großfürstinnen, eine deutsche Prinzessin, wollte die deutsche Ausstellung noch vor der Eröffnung sehen. Vor ihrem Besuch erschien die hohe Polizei, um nachzusehen, ob nicht hinter den lang herabhängenden Tischtüchern sich ein Attentäter verborgen hielte. Nun trat Herr Milkau auf den Plan. Er meinte, ihm käme es zu, die Großfürstin zu führen. Ich überließ ihm gern das Feld, denn ich war froh, mich ein paar Stunden erholen zu können. In der deutschen Abteilung war auch eine ganz rätselhafte Vorrrichtung, die den entsetzlichen Namen couveuse trug, ein Ding zum Aufpäppeln von ihren Müttern versehntlich zu früh geborenen Kindern. Herr Milkau war in Nöten, er bat mich, ihm die unlösbaren Geheimnisse dieser Vorrichtung zu enthüllen, denn die Großfürstin könnte danach fragen. Ich konnte ihm leider auch nicht helfen, denn meine Kinder hatten einer couveuse nicht bedurft, sondern waren als normal ausgewachsene Staatsbürger zur Welt gekommen.
Bei dem großen Festmahl vor der Eröffnung zu fehlen konnte ich nicht übers Herz bringen. Da lernte ich auch die Damen der Beteiligten kennen, von denen viele mit großen Brillanten behängt waren. Eine sagte mir Schmeichelhaftes über den künstlerischen Eindruck der deutschen Ausstellung. Zunächst kam bei der Feier die Sakuska, eine mehr als reichhaltige kalte Küche mit vielen Schnäpsen. Daran schloß sich ein üppiges Festmahl an langen Tafeln. Bald war es der Musik nicht mehr möglich, mit den Nationalhymnen der beteiligten Länder den Lärm der Tafelnden zu übertönen. Die Russen zogen sich schließlich in der Betrunkenheit über den Tisch und küßten sich zärtlich.
Herr Milkau sagte mir vor dem Beginn des Festmahls, er werde auf die Rede des Festleiters und Vertreters der russischen Regierung antworten. Ich war völlig damit einverstanden, daß nicht mir diese Ehre und Last zu Teil wurde und sagte ihm, ich hätte nun mehr als genug von der ganzen Veranstaltung und wäre auch ermüdet von der Arbeit im taurischen Palast, die doch fast allein mir zugefallen wäre. Herr Milkau hielt denn auch eine mit den üblichen, leeren und abgedroschenen Redensarten reichlich gespickte Ansprache, in der das „heilige Rrrußland“, wie er sich mit dramatischem „r“ vernehmen ließ, eine große Rolle spielte.
Am anderen Tage verließ ich Petersburg. Ich hatte nun genug von dieser Kultur. Ein paar schwere Wochen, überreich an anstrengender Arbeit, Überraschungen, Mißhelligkeiten, aufreibenden Vergnügungen und … Alkohol lagen hinter mir. Nach einigen Moanten erhielt ich von der russischen Regierung, die wohl der Ansicht war, ich hätte mir um die Ausstellung einige Verdienste erworben, den St. Annenorden dritter Klasse.
Zurück in Berlin
Einen Sommerurlaub habe ich mit meiner Frau und den Kindern in Göhren auf Rügen verlebt. In einem anderen Jahre waren wir der kleinen hamburgischen Insel Neuwerk im Wattenmeer vor Dühnen bei Kuxhafen.
Eines Tages überraschte uns die Mitteilung, der Graf Posadowsky habe seinen Abschied genommen, und an seine Stelle sei der preußische Minister des Inneren Herr v. Bethmann-Hollweg getreten. Am nächsten Tage versammelten sich die Beamten des Reichsamtes zu einem Abschieds- und Begrüßungsakt in einem der Säle. Posadowsky trat ein, leichenblaß, als habe er mehrere Nächte durchwacht und schwere Erschütterungen durchlebt. Er verabschiedete sich von uns und sagte dabei, das Wichtigste bei allen Arbeiten des Reichsamtes sei die Förderung des Wohles der mit ihrer Hände Arbeit sich ernährenden Klassen der Bevölkerung. Darauf verließ er den Saal. Dann wurden wir gebeten, uns noch zehn Minuten zu gedulden, und nach deren Ablauf erschien der Nachfolger, v. Bethmann-Hollweg, lang, schlaff, in nachlässiger Haltung. Auch er redete zu uns. Ich hatte keinen guten Eindruck von diesem Mann. Namens der Beamten antwortete er sowohl auf die Abschieds-worte Posadowskys als auch auf die Ansprache seines Nachfolgers der Unterstaatssekretär Wermuth, der spätere Staatssekretär des Reichsschatzamtes, dann Oberbürgermeister von Berlin.
Am anderen Tage begegnete ich dem Grafen auf der Treppe in seiner Wohnung. Er dankte mir für die guten Dienste, die ich dem Reichsamt unter seiner Amtsführung geleistet hätte. Ich war betroffen und weiß nicht mehr, was ich darauf geantwortet habe. Bald mußte ich in einer Bauangelegenheit auch mehrmals mit dem neuen Staatssekretär verhandeln. Da erwies sich dieser als ein außerordentlich liebenswürdiger Mann.
Stellenangebot aus Bremen
So anregend und befriedigend sich nun auch meine Tätigkeit in Berlin gestaltet hatte, so kam mir doch immer wieder die Sehnsucht nach Bremen mit seiner leicht erreichbaren Umgebung, nach meinem alten Dom, den mir so lieb gewordenen Verhältnissen der alten Hansestadt und dem mir, dem Westfalen, stammverwandten und sympathischen Menschenschlage. Mehrmals habe ich auf Urlaubsreisen die Stadt Bremen berührt, einer Arbeit wegen, die mich damals beschäftigte. Die kunsthistorische Kommission hatte mich damit beauftragt, für das Verzeichnis (das Inventar) der bremischen Bau- und Kunstdenkmäler den Dom zu bearbeiten. Ich machte mich in Berlin ans Werk und stellte dort die Arbeit im Wesentlichen in Beschreibungen und Abbildungen fertig.
In Bremen war inzwischen das staatliche Bauwesen umgeformt worden. Es waren drei Baudirektorenstellen geschaffen, eines Baudirektors für Strom- und Hafenbau, eines für Tiefbau und eines dritten für Hochbau. Die beiden zuerst genannten Stellen waren den bremischen Bauräten Bücking und Graepel übertragen worden, und bei der suche nach einem Baudirektor für Hochbau dachte man an mich. Zunächst setzte sich unser alter Freund v. Bippen mit mir in Verbindung, dann der Senator Dr. Nebelthau, der Syndikus der Handelskammer war, als ich am Schütting baute. Nebelthau kam nach Berlin und verhandelte mit mir. Dann sprach ich mit meinem Vorgesetzten, dem Ministerialdirektor Just und darauf mit dem Staatssekretär. Herr Just sagte mir, es sei geplant, die kleinen Bauabteilungen der Reichsämter in Berlin zusammenzulegen. Werde das erreicht, dann solle ich eine der ersten Stellen erhalten. Das schien mir ein Versprechen, dessen Erfüllung noch in weitem Felde lag. In der Unterredung mit dem Staatssekretär erklärte ich, man könne mich im Reichsamt nur halten, wenn meine Stelle eines ständigen Hilfsarbeiters in die eines vortragenden Rates verwandelt werde. Darauf entgegnete Herr v. Bethmann-Hollweg, er könne jetzt unmöglich die Stelle eines zweiten bautechnischen vortragenden Rates schaffen (die einzige vorhandene hatte der Oberbaurat Hückels inne). Da entschloß ich mich, obschon mir meine Tätgikeit im Reichsamt wohl zusagte, dem Rufe in die liebe alte Stadt Bremen zu folgen. Und diesen Entschluß habe ich bis heute nicht zu bereuen gehabt. Auch meine Frau ging gern wieder nach Bremen zurück, denn auch sie hatte die Stadt lieb gewonnen. Das war im Frühling des Jahres 1908.
Beim Abschied erhielt ich den roten Adlerorden dritter Klasse mit der Schleife, später kam noch die große Medaille zur Erinnerung an die Einweihung der Hohkönigsburg im Elsaß.
Familiäres und Reisen
Mein Sohn Franz besuchte von seinem neunten Jahr ab das Schillergymnasium in Wilmers-dorf, das von unserer Wohnung nicht weit entfernt lag.
Nun waren meine Eltern in der großen Stadt wieder allein. Sie fanden sich aber auch jetzt leicht in den Wechsel, weil sie sahen, daß ich dem Rufe nach Bremen gern folgte. Im Jahre 1904 hatten sie im engsten Kreis das Fest ihrer goldenen Hochzeit gefeiert. Einige Jahre später traf meinen Vater ein Schlaganfall, von dem er sich aber völlig wieder erholte.
An dieser Stelle will ich noch einiger Reisen gedenken, die ich während meiner Beschäfti¬gung im Reichsamt unternahm.
Nach der Vollendung des Patentamtes fand ich Zeit mich zu erholen. Da die Jahreszeit weit vorgerückt war, so fuhr ich, ohne mich unterwegs aufzuhalten, nach Torbole am nördlichen Ufer des Gardasees. Dort verbrachte ich herrliche Wochen im Gasthaus von Schinxhackel. An jedem Tage ging ich in die schöne kleine Stadt Riva mit einem entzückenden Marktplatz a Wasser. Oft auch fuhr ich auf dem blauen See nach Malcesine oder wanderte auf der herr-lichen Ponalestraße bis nach Mezzolago, oder schaute vom Dampfer auf die maleri¬schen Orte, auf die Berge, die den See umrahmen, zu den silbern glänzenden Spitzen der fernen Al¬pen.
Einige Jahre später empfahl mir mein Berliner Arzt, zur Heilung eines in meinem linken Ober¬¬arm zurückgebliebenen Schadens die Bäder von Salso maggiore in Italien zu gebrau¬chen. Ich begab mich wieder auf die Reise nach dem sonnigen Süden, fuhr nach Modena,, besuchte dort den Dom mit seiner Krypte aus romanischer Zeit und gelangte von da an den Ort meiner Bestimmung. Salso ist ein höchst langweiliges Nest am Apennin, an der Stelle, wo dieser Gebirgszug nach Süden abbiegt. Nach vier tötend langweiligen Wochen war meine Kur beendet. Als ich aufatmend wieder zum Wanderstabe griff, war die Weinernte in vollem Gan-ge. Damals rauften im fernen Osten die Russen und die Japaner miteinander.
Torbole am klaren blauen Gardasee hatte es mir angetan, mich mit Sehnsucht erfüllt. So fuhr ich denn nach einigen Jahren wieder über München nach Bozen. Und hier traf ich am Bahnhof unerwartet meinen Freund Starke aus Ballenstedt. Nach der ersten freudigen Be¬grüßung erfuhr ich von ihm, daß auch er den Gardasee besuchen wollte. Nun hatte ich einen lieben Reisegenossen. Wir fuhren nach Torbole, konnten dort aber im Gasthause von Schinxhackel nicht wohnen, weil er überfüllt war, mochten auch das Große Hôtel am See, das vor kurzem erbaut war und in der Landschaft wie ein Schlag ins Gesicht wirkt, nicht auf¬suchen. Wir wanderten daher weiter nach Riva und wohnten da in einem kleinen Gasthof. Nun kamen herrliche Schlendertage. Ich denke noch oft eines wundervollen Tages, an dem wir auf dem Hof einer Schenke in Nago oberhalb Torbole einen langen Frühschopppen tranken. Da haben wir bei Brot, Butter, Käse und süßem Muskateller von Desenzano geses¬sen und vieles aus dem Schatzkästlein unserer Erinnerungen hervorgekramt und in zauberhaftes Sonnenlicht gestellt. Mein Freund mußte leider bald wieder heimkehren. Ich aber verlebte noch einige Wochen in Riva, in den Bergen seiner Umgebung und an den Ufern des herrli¬chen sees.
Andere Reisen in jener Zeit boten mir Gelegenheit, viele Städte Süddeutschlands, das ich bei diesen größeren Ausflügen nur schnell durcheilt hatte, genauer kennenzulernen.
Reise nach Bochum
In einer Angelegenheit meiner Schwiegermutter fuhr ich einmal in meine Heimat, nach Bochum. Da suchte ich auch das Dorf Werne auf, das jetzt mit der Straßenbahn leicht zu erreichen war. Ja hätten wir, als ich ein Knabe war, diese wundervolle Verbindung schon gehabt! Wie habe ich da neugierig um mich geschaut, als ich in Gegenden kam, wo ich jedes Haus, jeden Baum, jede Hecke kannte, und Erinnerungen aus der Jugendzeit in mir lebendig wurden. Ich ging zu unserer alten Zeche, besuchte die Familie Kohlleppel und dann meinen alten, jetzt im Ruhestande lebenden Lehrer Nölle in Werne. Er freute sich über meinen Besuch und erzählte viel aus vergangenen Tagen. Dann setzte er sich an ein kleines, ihm von der Gemeinde zum Abschied geschenktes Harmonium, das er lange in der Kapelle gespielt hatte, dessen Klänge mir so vertraut waren, und sang mit seiner harten Stimme den Choral: „In allen meinen Taten.“ Da pochte die goldene Jugendzeit grüßend an die Pforte meines Herzens, und drängten sich in meinem Geiste Vorstellungen aus längst vergangener Zeit. Dann sagte er: „Zwei Schüler habe ich hier in Werne in der Schule gehabt, die sind viel geworden, auf die bin ich stolz. Der eine bist Du, und der andere ist Beukenburg.“ Der letztere, geboren als Sohn eines Steigers auf der Zeche Vollmond, war damals Generaldirektor in Hörde. Bei jenem Besuch sah ich meinen Lehrer und Freund zum letzten Mal. Seine immer hilfsbereite und teilnehmende Frau war nicht mehr unter den Lebenden. In Werner ist er zur ewigen Ruhe gegangen.
Als ich in Werne war, ging ich auch zu dem Platz der alten Schule. Sie war abgebrochen, warum, das habe ich nicht erfahren können. Die Menschen, die mir begegneten, waren mir fremd. Ja, es war anders geworden in meinem heimatlichen Dorf. Und an mir war die Zeit auch nicht ohne an mir zu ändern vorübergegangen.
Erneuter Dienstantritt in Bremen
Am 1. April 1908 trat ich meinen Dienst in Bremen an. Ich war nun bremischer Staatsbeamter mit der Bezeichnung Baudirektor. Später erhielten wir Baudirektoren das Recht, uns auch Oberbauräte zu nennen. Vor meinem Dienstantritt hatte meine Frau in Bremen ein kleines Haus an der Schwachhäuser Heerstraße für uns gemietet. Sie ging auch bald wieder nach Bremen, um es einzurichten. Als ich ihr mit den Kindern folgte und das Haus zum ersten Mal sah, wie es mit seinen hellen Mauern zwischen Bäumen und Gesträuch freundlich hervorschaute, füllte sich mein Herz mit Dankbarkeit und frohen Hoffnungen. Mehr als hundert Schritte lag es von der Straße. Ein von hohen Linden begleiteter Weg führte zu seinem Eingange. Rasenplätze mit Obstbäumen, Buschwerk und Blumenbeeten umgaben es auf allen Seiten, und hinter ihm stand eine stolze Reihe von hohen alten Kastanienbäumen, die im Frühling mit roten und weißen Blütenkerzen prangten. In der Nähe lag unser Gemüsegarten. Die Zimmer lagen sämtlich im Erdgeschoß, drei Schlafzimmer im oberen Stockwerk. Von da sah man zum Bürgerpark, zum Blockland und zum Weiherberg bei Worpswede. Dieses Haus mit seiner Umgebung, Eigentum des in unserer unmittelbaren Nähe wohnenden Landwirtes Wedermann, wuchs uns allen bald ans Herz. Mit den Anlagen wurde es das Paradies unserer Kinder, die hier treiben durften, was sie wollten. Ich baute einen Hühnerstall, wie hielten uns einen Hund, schafften Karnickel an und später auch eine Ziege. Die Kinder bauten sich ein schmuckes Paddelboot, mit dem sie die Wümme befuhren und einen Segelschlitten für die Eisflächen des Blocklandes. Wir zogen Blumen und ernteten oft große Mengen Obst.
Ich unterstand der Baudeputation, der Regulierungsdeputation und der Deputation für den Bau des neuen Rathauses. Es gab zwei Hochbauämter, deren Berichte und Entwürfe durch die Baudirektion laufen mußten, bevor sie zum Senator gelangten. Ich wurde Mitglied der kunsthistorischen Kommission, Beirat der Behörde für das städtische Museum, Vorsitzender der Sachverständigenkommission für Hochbausachen, daneben bald Mitglied der Direktion des Künstlervereins und trat nach einigen Jahren auch in den Vorstand des Kunstvereins ein. Nach wenigen Monaten wurde ich auch Beirat der Bauherren des Domes in Bauangelegenheiten. Als solcher habe ich die früher wegen Geldmangels unterlassene, dann aber dringend notwendig gewordene Ausbesserung der Mauern des Chores der Domkirche entworfen und ausgeführt und an allen Arbeiten Teil genommen, die der Brand des Künstlervereins im Jahre 1915 zur Folge hatte, bis zu dem Augenblicke, wo als Ergebnis eines Wettbewerbes ein neuer Entwurf vorlag. Die kunsthistorische Kommission übertrug mir bald für das Verzeichnis der Bau- und Kunstdenkmäler die Bearbeitung der alten Kirchen und Klöster in der Stadt und der alten Kirchen des Landgebietes. Für dieses Werk habe ich viele Zeichnungen und Lichtbilder gesammelt, herstellen lasen und selbst ausgefertigt. Diese im Sommer 1922 abgeschlossene Arbeit ruht jetzt im Staatsarchiv und harrt mit der über den Dom der Zeit, wo sie herausgegeben werden kann. Ob es mir vergönnt sein wird, sie zu erleben, das steht dahin.
Dienstreise nach Wien und Goldener Psalter Karls des Großen
Ich war noch nicht lange in Bremen, da fuhr ich nach Wien, um an einer Tagung von Baubeamten Teil zu nehmen. Ich sah bei dieser Gelegenheit in der Bibliothek der kaiserlichen Hofbuch den sogenannten Goldenen Psalter, den einst Karl der Große dem Dom in Bremen geschenkt hat, ein wundervolles kleines Buch, dessen Buchstaben mit Gold auf Pergamentblätter geschrieben sind, und das einige Malereien schmücken. Das Buch macht den Eindruck, als sei es erst einige Monate in Gebrauch gewesen.
Weltausstellung in Brüssel und Tagung in Dresden
Nicht lange danach besuchte ich die Weltausstellung in Brüssel. An einem Tage machte ich einen Ausflug auf das Schlachtfeld von Waterloo, das von Brüssel aus leicht zu erreichen ist.
Wenige Jahre später war ich in Dresden als Vertreter des Bremer Senates bei der Tagung für Denkmalpflege, deren Ehrenvorsitz der Prinz Georg von Sachsen inne hatte. Ich entledigte mich der Aufgabe, in einer Ansprache eine Einladung des Senates nach Bremen mit ihrem herrlich gelegenen Dom besucht. Als Vertreter Bremens war ich auch an einem Abend zu einer Gesellschaft im Palast des Prinzen Georg eingeladen.
Zu Besuch bei Geheimrat Adler in Berlin
Ich hatte einmal in Berlin zu tun und nahm diese Gelegenheit wahr, meinen alten Gönner, den Geheimrat Adler, aufzusuchen. Adler hatte seine Frau verloren und seinen Haushalt aufgelöst. Jetzt wohnte er bei einer seiner verheirateten Töchter. Ein schwerer Schlaganfall hatte ihn getroffen. Als ich in sein Zimmer trat, sah ich, daß er fast gelähmt war. Das Sprechen wurde ihm schwer, sodaß er sich kaum verständlich machen konnte. Ich war schmerzlich bewegt, als ich diesen körperlich völlig gebrochenen Mann sah. Adler sprach teilnehmend und liebevoll zu mir. Als ich ging, drückte er meine Hand wie liebkosend an seine Wange. Mir war traurig zu Mute, denn ich wußte, daß ich ihn da zum letzten Mal sah. Nicht lange danach ist er gestorben.
Publikationstätigkeit
Nach der Vollendung des von Gabriel v. Seidl aus München erbauten neuen Rathauses gab mir die Deputation den Auftrag, über diesen Neubau ein Buch zu schreiben. Es ist unter dem Titel „Das neue Rathaus zu Bremen“ im Verlage von Leuwer in Bremen in einer einfacher und einer kostbaren Ausstattung erschienen. Dann schrieb ich ein kleines Heft über das Gewerbehaus und einen Führer durch den Dom, der mehrere Auflagen erlebte und im Dom verkauft wird, und viele Aufsätze meist bauwissenschaftlichen Inhalts für Zeitschriften und Tageszeitungen.
Das neue Haus in Bremen
Meine Frau und ich gehörten lange einem kleinen Kreise von Familien an, die sich wöchentlich einmal im europäischen Hof trafen. Der Krieg machte dem, wie so vielem Anderen, ein Ende.
Meine Kinder waren täglich auf dem benachbarten Wedermannschen Hof. In dem großen Bauernhause wohnten die Eltern Wedemann, die damals noch Landwirtschaft betrieben, und die Familie des verheirateten ältesten Sohnes. Bei der letzteren hatte sich ein Kindlein eingestellt, und an demselben Tage war im Kuhstall des alten Herrn Wedemann eine erfreuliche Vermehrung des Viehstandes eingetreten. Da kam mein jüngster Sohn Liemar, vom Hof zurückkehrend, fast atemlos zu mir und erzählte in fliegender Hast: „Vater, jetzt kann ich Dir aber was ganz Neues sagen. Die jungen Wedermanns haben ein Kind gekriegt, und die alten Wedermanns ein Kalb.“
Todesmeldungen aus Familie und Freundeskreis
Im September 1908, grade als ich mich während eines Urlaubs auf einer Reise befand, starb in Hannover plötzlich am Herzschlage mein Bruder Heinrich, Ingenieur in der Brückenbauanstalt von Dietrich. Die Nachricht von seinem Tode wurde in Bremen nicht geöffnet, sondern mir verschlossen nachgesandt. So kam es, daß sie in Dürkheim zu spät in meine Hände gelangte. Als ich sie erhielt, konnte ich am Begräbnis nicht mehr Teil nehmen. Mein Bruder ruht auf dem Stöckener Friedhofe. Leibeserben hat er nicht hinterlassen. Seine Frau hat in Hildesheim eine neue Ehe geschlossen, wie schon früher mitgeteilt worden ist.
Meine Eltern wohnten in den letzten Jahren in Wilmersdorf bei Berlin. Im April 1910 erkrankte mein mehr als 85 Jahre alter Vater an einer leichten Lungenentzündung, die er bald überwand. Dann aber sanken seine Kräfte. Ich wurde nach Wilmersdorf gerufen, weil sein Zustand bedrohlich erschien, und saß lange am Bett meines Vaters. Er war körperlich wohl und im Allgemeinen auch Herr seiner Sinne. Dann aber kam ein Augenblick, wo der liebe Vater mich nicht erkannte. Er hielt mich für den Sohn seines Nachfolgers in seiner Stellung auf der Zeche. Nun wußte ich, daß das Ende nicht mehr fern war. Ich kehrte aber wieder nach Bremen zurück. Der Arzt hatte mir gesagt, mein Vater habe keine Schmerzen, er fühle sich ganz glückselig, aber die Funktionen des Körpers schliefen nach einander ein. Wenige Woche später, am 8. Mai 1940, starb mein Vater. Ich eilte wieder nach Berlin und stand meiner Mutter bei und meiner jüngsten Schwester, die sich zum Besuch meiner Eltern und zur Pflege des Vaters dort aufhielt. Ohne Kampf ist mein Vater hinübergegangen. Auf dem Wilmersdorfer Friedhof hat er nach den Mühen und der pflichttreuen Arbeit seines Lebens Ruhe gefunden (Grab m. Vaters a. d. Friedhof i. Wilmersdorf: Abt. C2, Reihe 3, Grab 3). Meine Mutter blieb noch einige Zeit in Wilmersdorf, dann aber zog sie nach Düsseldorf, wo meine älteste Schwester wohnte.
Im Februar 1911 durchflog unsere Stadt Bremen die Kunde: Franz Schütte ist tot! Nach kurzer Krankheit war er gestorben. Sein Sarg wurde in den Dom gebracht, wo eine erhebende Feier stattfand. Viel verdanke ich diesem rastlos tätigen, starken Manne, der alle Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellten, siegreich überwand. Bis an das Ende meines Lebens will ich ihm dankbar sein.
Zu derselben Zeit ging auch mein alter Freund Hermann Allmers in Rechtenfleth zu seinen Vätern heim.
Im Jahre 1911 sah ich die liebe Stadt Schleswig wieder, den alten Dom, gute Freunde und viele der Stätten, wo ich zu der Zeit, als ich am Dom baute, so glückliche Stunden verlebt hatte.
Scheidung
Beim Gewerbemuseum war im Jahre 1912 ein Herr Dr. Habicht als Assistent tätig. Ihn lernte meine Frau in einer Gesellschaft kennen. Er kam in unser Haus, als ich auf einer Reise nach Straßburg abwesend war, um sich zu verabschieden, da er auswärts eine andere Stelle angenommen hatte. Diese Abschiedsbesuche wiederholten sich. Als ich von der Reise nach Hause zurückgekehrt war, teilte mir meine Frau mit, daß sie sich von mir scheiden lassen und Herrn Habicht heiraten wolle. Was nun folgte, will ich nicht eingehend schildern, sondern ich will mich auf die Mitteilung einiger Tatsachen beschränken. Im Dezember 1912 verließ meine Frau mein Haus, und schon im Februar 1913 sprach das Gericht die Scheidung aus; es maß die Schuld meiner Frau bei. Die Kinder blieben bei mir. Mir erwuchs die Aufgabe, ihren jungen Herzen die Trauer möglichst fern zu halten und mich ihrer in allen Angelegenheit anzunehmen, für die zu sorgen bisher Sache ihrer Mutter gewesen war. Sie haben den Schlag tapfer überwunden, mich niemals fühlen lassen, daß ihnen etwas, und was ihnen fehlte.
Ihre Mutter haben sie in Hannover hin und wieder besucht. Unmittelbar nach diesem Ereignis führte die älteste Tochter meiner Schwester in Düsseldorf meinen Haushalt. Später traten andere an ihre Stelle.
Meine beiden Söhne haben das neue Gymnasium hierselbst besucht. Als meine Frau das Haus verließ, schenkte sie ihnen ein Mikroskop. Dieses hat ihnen viele Freuden gebracht und viel lehrreiche Unterhaltung verschafft. Beständig suchten und fanden sie neue Beobachtungsobjekte. Sogar mikroskopische Photographien fertigten sie an. Bei dem ältesten entfaltete sich das Talent zum Zeichnen und Malen immer schöner. Er machte erstaunliche Fortschritte, und in mir erwuchs und befestigte sich der Entschluß, ihm die Wege zum Malerberuf zu eröffnen. Ich hatte vor, ihn an der Düsseldorfer Akademie studieren zu lassen, wo mir bekannte Maler wirkten und freute mich der Zeit seines Studiums schon damals. Doch was sind Hoffnung, was Entwürfe!
Tod der Mutter
Am 17. April 1913 starb plötzlich in Düsseldorf meine Mutter in ihrem dreiundachtzigsten Lebensjahre. Bis an ihren Tod blieb sie rüstig und in Tätigkeit. Meine Schwester ging an einem Morgen in ihre Wohnung, um ihr etwas zu bringen. Sie trat in das Wohnzimmer und sah die Mutter im Sopha sitzen, als ruhe sie einen Augenblick aus. Sie redete sie an, aber meine Mutter antwortete nicht. Kurz vorher war sie verschieden. Mitten in hauswirtschaftlicher Tätigkeit hatte eine Herzlähmung ihrem Leben ein Ende gemacht. Ich eilte sofort nach Düsseldorf. Auf dem Südfriedhof, nach einer Andacht der Trauerversammlung in der Kapelle, haben wir unsere allzeit tätige, stets unerschrockene und liebevoll sorgende Mutter begraben.
Urlaubs- und Bildungsreise mit den Söhnen
Mit meinen Söhnen machte ich im Jahre 1913 eine schöne größere Reise. Wir fuhren nach Goslar, dann nach Ilsenburg, übernachteten daselbst und besuchten am nächsten Tage den Brocken. Von da gings weiter nach Rubeland, wo die Tropfsteinhöhle besichtigt wurde. Wir fuhren dann mit einem Wagen nach Treseburg, wanderten durch das Bodetal nach Thale und kamen nach Blankenburg, wo auf der Burg Regenstein viel gezeichnet wurde. Unser Weg führte uns weiter nach Eisenach, zur Wartburg, zur hohen Tanne und nach Wilhelmsthal. Dann hielten wir uns einen Tag lang in dem schönen kleinen Städtchen Allendorf an der Werra auf. Von hier aus wurden die Teufelskanzel und die Burg Harstein besucht. Weiter ging es dann über den Ludwigstein nach Witzenhausen und Münden und von dort mit dem Weserdampfer nach Karlshafen. Hier trennten wir uns nach einigen Tagen. Meine Kinder fuhren zu ihrer Mutter nach Hannover, und ich hielt mich noch einige Tage an den Externsteinen und auf der Grotenburg am Hermannsdenkmal auf.
Das liebliche Karlshafen habe ich von Bremen aus öfter besucht. Das schöne Wesertal, die herrlichen, weit ausgedehnten Waldungen, die Berge und die kleinen malerischen Orte der Umgebung haben mich immer wieder angezogen, mir Anregung, Erfrischung und Erholung geboten und gespendet. Im Hôtel zum Schwan bei Stunz war ich stets vortrefflich aufgehoben.
Dienstreise nach Straßburg
Die erwähnte Reise nach Straßburg mußte unternehmen, weil der Münsterbildhauer daselbst eine Steinbrüstung für unseren Dom modellierte, die Herr Schütte und seine Frau gestiftet hatten. Als meine Geschäfte in Straßburg erledigt waren, machte ich einen Abstecher nach Lothringen, in die Gegend, wo ich als Bauführer Bahnhöfe gebaut hatte. Da sah ich das Städtlein Busendorf wieder. Es war fast unverändert. Lange habe ich da an der Kreuzigungsgruppe auf dem Hügel unter den Linden gestanden, auf die Stadt, die steinerne Brücke mit dem Heiligenbilde, auf die Nied und das hügelumsäumte Tal geblickt, längst vergangener Tage und lieber Menschen gedacht, die das Leben zerstreut oder der Tod unter Grabhügel gebettet hat.
Der Erste Weltkrieg
So kam allmählich das ewig denkwürdige Jahr 1914 heran. Lange hatte das Gewitter drohend am Himmel gestanden. Im August brach es los mit gewaltigen Erschütterungen, die noch jetzt nachzittern. Eine Begeisterung lohte auf wie vor langer Zeit im Jahre 1870. Und vieles wiederholte sich, was ich damals in Mülheim an der Ruhr erlebt hatte. Genau wie in jenen erregten Tagen gab es auch jetzt Verfolgungen vermeintlicher Spione der Feinde, und schwirrten die abenteuerlichsten Gerüchte durch die Luft. Der Bevölkerung und der Soldaten bemächtigte sich eine ungeheuere Aufregung, die oft wunderliche Formen annahm. An einem klaren Abend bald nach der Kriegserklärung, als kleine schmale Wölkchen am Himmel standen, verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, feindliche Flugzeuge seien gegen Bremen im Anzuge, sie haben es auf eine Zerstörung des Bahnhofes abgesehen. Nun gab es in der ganzen Stadt, besonders am Bahnhof, einen Höllenlärm. Überall fielen Schüsse, an allen Ecken und Enden, besonders von hoch gelegenen Punkten, knallte es. Ein Freund erzählte mir, er habe gesehen, wie ein radfahrender Schutzmann, der offenbar Kopf und Vernunft verloren hatte, seinen Revolver gegen die Wolken abschoß. Noch spät am Abend, als ich zu Hause war, hörte ich bei meiner Wohnung viele Schüsse fallen. Am anderen Tag kam die Nachricht, irgendwo, in Leer oder Norden, seien in der Luft Gegenstände gesehen worden, die sich in Richtung nach Bremen bewegten, vermutlich feindliche Luftschiffe, es könnten aber auch wilde Gänse gewesen sein.
Ich will hier keine Geschichte des großen Krieges schreiben, des gewaltigen Ringes des deutschen Volkes um sein Dasein, denn es gibt genug Bücher, die jene Zeit und die großen, schweren Kämpfe schildern. Hier will ich nur berichten, wie der Krieg und was auf ihn folgte, mich und meine Kinder berührt hat.
Mein Sohn Liemar befand sich, als mobil gemacht wurde, bei einem Freunde in Wildes¬hausen. Franz war auf dem Lande, nicht weit von Basdahl und half einem Landwirt bei der Ernte. Liemar kehrte sofort zurück, Franz nach einiger Zeit.
In jener Zeit beabsichtigte ich, mir an der alten Aller zwischen Etelsen und Daverden auf einem Hügel ein Sommerhäuschen zu bauen. Es kam aber nicht dazu, weil ich das Dach durchaus mit Stroh decken lassen wollte, und das Stroh bald beschlagnahmt wurde. Hätte ich es dennoch gebaut, so wäre es mir zweifellos in der ganz zügellosen Folgezeit, wo alles gestohlen wurde, was nicht niet- und nagelfest war, stückweise abgebrochen und verschleppt worden.
Mein Sohn Franz beteiligte sich eifrig an den Übungen der Jugendwehr, einer Vorbereitung auf den Militärdienst. Als er nach Absolvierung der Untersekunda die Berechtigung zum einjährigen Dienst erworben hatte, besuchte er die hiesige Kunstgewerbeschule. An seinem Geburtstage im November 1916 erhielt er seine Einberufung zum Dienst mit der Waffe beim bremischen Infanterieregiment. Er wurde eingekleidet und meldete uns sofort, daß er zur Ausbildung nach Huchting gekommen sei. Dort besuchten wir ihn am nächsten Sonntage in einem Wirtshause, das nun als Kaserne diente. Bald darauf bezog er eine Privatwohnung in der Nähe. Dann kam er nach Bremen und nahm in der Neustadt Wohnung. Am 8. Mai 1917 rückte er ins Feld. Ich sah den Auszug der schmucken, neu gekleideten Schaar und begleitete sie bis zum Bahnhof. Die ersten Karten schrieb Franz aus Belgien. Bald war er im vordersten Schützengraben, den Engländern gegenüber. Nicht lange, da erkrankte er an Furunkeln und mußte das Lazarett in Valenciennes aufsuchen. Kaum war er wieder gesund geworden und eingestellt, da wurde er bei Westrosebeke in Flandern durch einen Granatsplitter am rechten Oberschenkel verwundet. Im Gefecht hatte er 24 Stunden lang im Trommel- und Sperrfeuer in einem Erdloch liegen müssen, das sich bald mit Schlamm füllte. Als er sich einmal erhob, um sein Gewehr zu reinigen, traf ihn der Splitter. Er irrte lange umher, bis er ein Lazarett fand, wo er sofort operiert werden mußte, weil Gasbrand dazu¬gekommen war. Als er zur Heilung nach Stettin gebracht war, besuchte ich ihn dort im November 1917. Auf dem Rückwege machte ich unterwegs einen kurzen Halt, um die schöne Stadt Neubrandenburg in Mecklenburg zu besichtigen. Sie hat einen wundervollen, mit alten Bäumen bewachsenen Wall, eine mittelalterliche Kirche und schöne alte Tore, Perlen der Backsteingotik. Mitten auf dem Markte steht das Rathaus, daneben ein großherzogliches Schloß. Neubrandenburg ist der Schauplatz der Reuterschen Erzählung Dörchläuchten.
Zu seiner völligen Heilung kam Franz auf mein Gesucht kurz vor Weihnachten nach Bremen, in das Lazarett in der Schule an der verlängerten Staderstraße. Am Weihnachtstage war er in unserem Hause.
Am Anfang des März 1918 wurde er wieder eingestellt. Er fuhr nach Hamburg. Liemar und ich begleiteten ihn zum Bahnhof. Hier sah ich meinen lieben ältesten Sohn zum letzten Mal.
Im April zog er von Hamburg aus wieder ins Feld. Er schrieb viele Karten und Briefe an mich und Liemar, die er zum Teil mit ernsten oder witzigen Zeichnungen schmückte. Auch Bilder besitze ich, die er im Felde gemalt hat.
Im Dezember 1917, grade als unser Kaiser den Feinden ein Friedensangebot gemacht hatte, starb in Essen meine Tante Friederike Leineweber, die jüngste Schwester meines Vaters. Ich reiste zu ihrem Begräbnis nach Essen und verkehrte im Kreise von Verwandten, die ich lange nicht gesehen hatte. Am anderen Tage besuchte ich die Stadt Mülheim an der Ruhr und frischte Erinnerungen an goldene Tage der Jugend auf.
Mein Sohn Liemar hatte sich entschlossen, Landwirt zu werden. Im April 1918 ging er zu einem Bauern in Hinzendorf bei Etelsen, um die Anfangsgründe seines Berufes kennen-zulernen.
Am 15. August 1918 zog eine tiefe, schwere Trauer in mein Haus und in mein Herz ein. Da erhielt ich, mittags nach Hause zurückkehrend, aus dem Felde die Nachricht, daß Franz gefallen sei. Am 9. August, an einem Freitag, am Morgen um 8 Uhr, traf ihn, nicht weit von Bazoches, ein schwerer Granatsplitter, der ihn sofort tötete. Am 11. August, einem Sonntage, haben ihn seine Kameraden, nachdem sie einen Sarg für ihn gezimmert hatten, auf dem Divisionsfriedhof bei Bourg an der Aisne bestattet. Mit ihm sind die schönen Hoffnungen begraben, die ich auf diesen hochbegabten Sohn gesetzt hatte. Mein Sohn Liemar kam, als er von mir die Kunde erhalten hatte, sofort zu mir nach Bremen.
An dem Sonntag nach dem Tode meines Sohnes stand hier in Bremen die Sonne strahlend am blauen Himmel. Ich ging in die Stadt, kam zur Martinikirche kurz vor dem Gottesdienste, trat hinein und verweilte einige Zeit in dem schönen, von Lichtstrahlen durchfluteten Raum. Dann ging ich wieder ins Freie. Da freute ich mich des herrlichen Sonntagsmorgens und ahnte nicht, daß zu derselben Stunde fern in Frankreich mein lieber Sohn zur Ruhe bestattet wurde.
Ich habe das mich erhebende Bewußtsein, daß es meinem Sohn nie in den Sinn gekommen ist, sich zu drücke, oder danach zu streben, an eine weniger gefahrvollen Stelle gesetzt zu werden. Er hat als tapferer, treuer Soldat immer seine Pflicht getan. Einmal sagte er mir, er wolle gern mit seinen Kameraden da stehen, wo die Gefahr am größten sei. Nicht lange nach seinem Tode kam der Unteroffizier Kettler von hier in mein Haus. Er hatte Franz fallen sehen, war sofort zu ihm gelaufen und erstattete mir nun einen genauen Bericht über den Vorfall, den ich in einem während des Krieges geführten Tagebuche genau geschildert habe. Bald kam auch der geringe Nachlaß meines Sohnes in meine Hände, darunter ein Brief, den ich ihm in Salzuflen geschrieben habe. Er enthielt das Versprechen, er solle nach dem Kriege eine Erholungs- und Studienreise machen. Dieser Brief hat ihn gewiß sehr erfreut, denn er trug ihn bei sich, als er fiel. Zugleich erhielt ich ein Tagebuch und seine Uhr. Ich zog sie auf und sie ging. Da war es mir, als hielte ich etwas Lebendes von meinem Sohn in meiner Hand, als käme von ihm zu mir ein letzter Gruß.
Mein Sohn Franz war zurückhaltend, in sich gekehrt, und führte ein reiches Innenleben. Alles Häßliche verabscheute er, alles Gemeine war ihm fremd. Darum blieb seine Seele rein. Er war bescheiden und treu. Niemals hat er mich betrübt, immer nur mir Freude gemacht. Eine Lust war es für mich zu sehen, wie er sich körperlich entwickelte, und sein schönes Talent sich entfaltete.
Die Revolutionszeit 1918/1919 in Bremen
Mein Sohn Liemar trat im Oktober 1918 eine Stelle als Eleve der Landwirtschaft auf dem Gute Holnishof bei Glücksburg an. Dahin begleitete ich ihn, als er eintrat, und auf der Rückfahrt sah ich Kappeln, die Schlei und Schleswig wieder.
Damals stand die Revolution vor den Toren. Dann brach bald ein Gewittersturm als großes Unglück über uns herein. Mit tiefem Abscheu zunächst, dann mit grenzenloser Verachtung sahen wir das Gebahren der völlig zuchtlosen Soldateska auf den Straßen und in den Wagen der Straßenbahn. Das Gewehr mit der Mündung nach unten und dem Kolben nach oben umgehängt, in nachlässigster und herausfordernder Haltung, so sah man diese traurigen Helden, von denen kaum einer Pulver gerochen hatte, sich umhertreiben, großmäulig und anmaßend. Das waren Soldaten des stolzen deutschen Heeres! Ja, es hat viel Gesindel damals im bunten Rock gesteckt. Und in derselben verächtlichen, unwürdigen Haltung die sogenannten „Mariner“. Mit Ekel wandten wir uns ab und vermieden es, diese Horden anzusehen. Monate lang standen wir nun in Bremen unter dem Szepter der Revolutions-regierung, unter dem Walter der Personen, welche die Bewegung an die Spitze geworfen hatte, wie Schaum und übelriechende Gase in gährender Flüssigkeit nach oben steigen. Dann aber kam eine Wendung. Am 4. Februar 1919 zog nach stundenlangem Gefecht die Division Gerstenberg der Reichswehr in Bremen ein. An jenem Tag ging ich wie immer zur Baudirektion an der Holzstraße in der Neustadt und sah in der Stadt Vorbereitungen zum Widerstande. Auf dem Marktplatz lag das erste Opfer des Tages, ein erschossener großer Hund. Um 10 Uhr etwa ging der Tanz los. Da hörte ich den Knall eines ungefähr dreißig Schritte von mir aufgestellten Geschützes, das nach der Gegend von Habenhausen, wo keine Menschenseele zu sehen war, ein paar Granaten warf. Die Angestellten der beiden Hochbau-ämter hatten schon den Schauplatz ihrer Tätigkeit verlassen, denn bald begann in der Neustadt die Sache kritisch zu werden. Da ich nun befürchten mußte, von der Stadt und meiner Wohnung durch Sperrung der großen Weserbrücke abgeschnitten zu werden, so verließ ich mein Arbeitszimmer, und es gelang mir, während hin und wieder Schüsse fielen, noch über die Brücke in die Altstadt zu kommen.
An der abgesperrten Martinikirche stand barhäuptig ein Soldat, der völlig den Kopf verloren hatte und mehrmals in die Luft schoß, um den Leuten zu zeigen, was für ein schneidiger Kerl er sei. Zu meiner Wohnung gelangte ich auf Umwegen, weil viele Straßen abgesperrt waren. Auch die Wagen der Straßenbahn verkehrten nicht mehr. Unterwegs hörte ich zuweilen kurzes Maschinengewehrfeuer. Am Nachmittag zog ein Trupp Gerstenberger an unserem Hause vorbei. Er kam von Sebaldsbrück, wo er ein Gefecht mit einem Teil der bremischen Besatzung gehabt hatte. Gefangene Matrosen zogen die mitgeführten Maschinen¬gewehre, Angehörige der ehemals stolzen Marine Seiner Majestät in tiefster Erniedrigung. Am anderen Tag ging ich durch die Wachtstraße. Sie war ganz besät mit Glas¬splittern und Steinbrocken und bot ein trauriges Bild der Zerstörung.
Unterüberschrift?
Nach seiner Rückkehr von Honishof im Oktober 1919 besuchte mein Sohn Liemar die hiesige Landwirtschaftliche Schule bis zum März 1920.
Am Weihnachtsabend des Jahres 1919 lernte ich im Wagen der Straßenbahn eine junge Dame kennen, die ich schon vordem, weil sie in meiner Nähe wohnte, oft gesehen hatte, Fräulein Hermanna Lüerßen. Sie hatte damals erst das zwanzigste Lebensjahr erreicht. Wir wurden bald gute Freunde und verkehrten viel miteinander. Sonntags wanderten wir oft in der Umgebung der Stadt.
Bald darauf verließ ich das Haus an der Wachhauser Heerstraße, weil die Besitzerin, Frau Wedermann, die inzwischen Witwe geworden war, es selbst beziehen und bewohnen wollte und mietete das obere Stockwerk des Hauses Hamburgerstraße 255. Da schreibe ich jetzt auch diese Erinnerungen.
Im Anfang des Jahres 1920 spürte ich Schmerzen im linken Oberarm, wo wohl von meiner schweren Erkrankung im Jahre 1873 ein Rest zurückgeblieben war. Sie wurden so heftig, daß ich in einer Beratung den Vorsitzenden bitten mußte, mich nach Hause zu entlassen. Sofort wurde ich bettlägerig, weil eine schwere Nierenentzündung dazu kam. Ich war an Knochenmarkentzündung erkrankt und wurde von einem Arzt behandelt, der den Grund, die Art und den Sitz des Übels nicht zu erkennen schien. Da griff zum Glück mein Sohn Liemar ein. Er setzte sich mit dem Professor Sattler vom großen Krankenhause in Verbindung. Dieser kam noch an demselben Abend und ordnete meine sofortige Über¬führung in das Krankenhaus an. Alsbald wurde ich, ohne dessen recht bewußt zu werden, in Lebensgefahr geschwebt habe. In dieser Zeit besuchte mich oft mein Freund Sinzig; es war mir jedes Mal eine große Freude, wenn er kam. Sehr oft war auch meine jugendliche Freundin Fräulein Lüerßen bei mir. Sie hat mich oft aufgerichtet, wenn ich verzagen wollte und es bewirkt, daß ich allen Widerwärtigkeiten in dieser ganzen schweren Zeit Widerstand geleistet habe. Unermüdlich war sie bemüht, mir Mut und Hoffnung einzuflößen, mich aufzuheitern und mir kleine Gaben zu bringen, die mich erfreuten. Fast jeden Tag war auch Liemar bei mir, der im März 1920, als ich noch krank darnieder lag, wieder nach Holnishof ging. Dort blieb er bis zum Oktober desselben Jahres.
Meine gute Natur und das Geschick meines Arztes überwanden die Krankheit. Im Mai 1920 kehrte ich dankerfüllt in meine Wohnung zurück. Kaum war ich völlig genesen, da suchte ich auf einige Tage das kleine westfälische Städtchen Lübbecke auf, das ich kennengelernt hatte, als ich mich einige Jahre vorher in dem Badeorte Salzuflen aufhielt. Ohne Halt zu machen, konnte ich da schon von der Stadt bis zur höchsten Erhebung des Wiehengebirges steigen. Ich erholte mich schnell und kam bald wieder in den Besitz meiner Kräfte.
Dann ging ich auf einige Wochen nach Karlshafen. In der herrlichen Natur und im Kreise anregender und fröhlicher Menschen habe ich dort schöne Tage verlebt, froh der wieder-gewonnenen Gesundheit. Wieder besuchte ich die hessische Stadt Grebenstein, Burg und Ort Trendelenburg, die Krukenburg, Beverungen und andere Orte voll malerischer Reize.
Pensionierung
In den Staatsdienst kehrte ich nach dieser Krankheit nicht wieder zurück. Da ich am 6. September 1920 mein fünfundsechzigstes Lebensjahr zurücklegte, so bat ich den Senat um meinen Abschied, der mir auch mit der gesetzlichen Pension erteilt wurde. Ich bin der Meinung, der Beamte soll nicht so lange im Dienste bleiben, bis er die Jahre der vollen Leistungsfähigkeit überschritten hat und anfängt zu erstarren. Außerdem halte ich es für richtig, daß ein Beamter, bevor das Greisenalter kommt, jüngeren Kräften Platz macht, um ihnen den Aufstieg zu ermöglichen. Ich wollte auch nach meinem Abgang noch etwas vom Leben haben, noch von dem Schönen, das die Erde und das Leben bieten, genießen, mich umsehen in den geliebten Wissenschaften, kennen lernen, womit zu beschäftigen mir bisher die Zeit gefehlt hatte, meine Kenntnisse auf vielen Gebieten erweitern und vertiefen.
Wenn ich nun auch aus dem Staatsdienst austrat, so behielt ich doch verschiedene Ämter bei. Ich blieb bautechnischer Berater der Behörde für das städtische Museum, Mitglied der kunsthistorischen Kommission, Vorsitzender der Sachverständigenkommission, die einmal in der Woche Sitzung hat; außerdem blieb ich in der Direktion des Künstlervereins und im Vorstande des Kunstvereins. Auch technischer Berater der Bauherren des Domes blieb ich. Oft habe ich das Vergnügen gehabt, Vereine, Teilnehmer an Versammlungen, Schulklassen und einzelne Personen durch den Dom und das Rathaus zu führen.
Unterüberschrift?
Im Jahre 1922 unternahm ich eine Reihe von Wanderungen in die Umgebung Bremens. Aufsäte darüber erschienen in den Bremer Nachrichten. In diese Schilderungen sind Beschreibungen von Kirchen, sonstigen Baudenkmälern, auch von Hünengräbern eingestreut.
Mein Sohn Liemar hat vom Oktober 1920 an ein Jahr lang die Landwirtschaftliche Schule in Hildesheim besucht und ist dann vom Oktober 1921 bis zum Dezember 1922 auf dem Rittergut Neuerhof in Wolkramshausen südlich von Nordhausen als Verwalter tätig gewesen. Gegenwärtig (1924) bewirtschaftet er das kleine Landgut eines Verwandten in der Nähe von Barmen.
Am 24. Juli 1921, als die Linden blühten, und grade die Trauer über eine schmerzliche Ent-täuschung mich erfüllte, lernte ich hier eine junge Dame kennen, die in Bremen zum Besuch bei Verwandten weilte, Fräulein Luise Fieseier aus Mülheim an der Ruhr, der Stadt, in der mir in den Jahren 1867-1871 die Lehren der Weisheit eingeflößt wurden, wo mein Großvater seine treue Lebensgefährtin fand, und mein Vater das Licht dieser Welt erblickte. Nicht weit von der Schule, in der ich einst mit meinem Freund Pietig die Bänke gedrückt habe, steht das Haus ihrer Eltern. Sie ist mir eine verehrte und liebe Freundin geworden, die nicht hin und her schwankt, sondern sich und anderen treu bleibt. Wenn sie nicht bei ihren Verwandten in Bremen weilt, dann fliegen zwischen uns Briefe hin und her.
Im September des vorigen Jahres 1922, nach einem mehrwöchentlichen schönen Aufenthalt in einem Gasthause am Wiesenbeker Teich, nicht weit von Lauterberg im Südharz, besuchte ich meinen Sohn in Wolkramshausen. Einige Tage wohnte ich in seiner Nähe, in dem kleinen Dorf Hainrode an der Hainleite. Als ich mich diesem Ort näherte, sah ich nicht davon auf einem vereinzelt in der Ebene aufragenden Hügel die beiden Türme einer anscheinend alten Kirche. Ich fragte nach dem Namen und erfuhr, daß dort Münchenlohra liege.
Nun erinnerte ich mich, daß mein Freund Menken die Wiederherstellung dieser im Bauernkriege zerstörten Kirche nach einem Entwurfe seines Lehrers Schäfer als Bauführer geleitet hat. Am nächsten Morgen suchte ich die Kirche auf. Sie liegt in der unmittelbaren Nähe der Gebäude einer Domäne und ist eine gewölbte romanische Basilika mit einer zweitürmigen Westfront. Als ich auf dem steinernden Türfelde an der Nordseite den Namen Menke las, da dachte ich meines lebenslustigen Freundes, den schon lange der Grabhügel deckt.
Beschluss des ersten Teils
Nachdem ich so die Wege meines Lebens mit allen ihren Windungen in der Erinnerung noch einmal zurückgelegt habe, bin ich bis zur unerfreulichen Gegenwart gelangt. In ihr reiht sich ein trüber Tag an den anderen. De große Krieg ist längst vorüber, der Friede ist geschlossen, aber der beglückenden Segnungen des Friedens erfreuen wir uns nicht. Nachdem das deutsche Volk in dem Riesenkampfe gegen eine unbezwingbare Übermacht unterlegen ist, haben unsere Feinde große Stücke Landes vom Körper des Reiches abgerissen. Andere Landesteile am Rhein und an der Ruhr halten sie besetzt, und so verstopfen sie die Quellen unserer wirtschaftlichen Kraft. Deutschland liegt wehrlos und hülflos am Boden. Und im Innern flackert der Hader der Parteien immer wieder auf zu einer Zeit, wo uns Einigkeit so dringend not tut. Häßliche Eigenschaften, die sich früher kaum hervorwagten, sind in unserem Volke überall aus dem Dunkel an das helle Tageslicht getreten, Schieberei, eine entsetzliche Habgier und der Trieb, schnell Reichtümer zusammen zu raffen, um ein Wohlleben führen zu können. Betrug, Diebstähle, Plünderungen, Raubanfälle mit Morden und Totschlägen sind überall an der Tagesordnung und beweisen in ihrer Fülle, daß große Teile unseres Volkes auf eine niedrige Kulturstufe gesunken sind. Eine furchtbare Teuerung herrscht, die durch schamlosen Wucher noch verschärft wird. Die Wohnungsnot ist entsetzlich, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Seuchen breiten sich aus in Folge der schlechten Ernährung, die Tuberkulose fordert ungezählte Opfer. Die Mark ist nahezu völlig entwertet, unser ganzes Geschäftsleben beherrscht der Dollar.
Ein einzelner Mann, eine Regierung allein, kann in diesem Chaos nicht Ordnung schaffen, nicht Hülfe bringen für Alle. Das Volk als einiges Ganze nur kann seine Lage bessern. Ein jeder Volksgenosse muß dazu beitragen, mit redlichem Willen und ganzer Kraft.
Es geht auf und ab im Leben der Menschen und der Völker. Aus der Tiefe werden wir wieder auf die Höhe kommen, aber nur mit Hülfe der geistigen Kräfte, die im deutschen Volke wohnen. Diese Kräfte haben unsere Feinde nicht zerstören können, und sie auszulöschen wird ihnen auch nie gelingen. Es ist eine trübe Zeit, schwer ist der Himmel mit Wolken verhängt. Gewiß ist es aber, daß einst unser Volk sich vom Boden aufraffen, sich hoch erheben, die drückenden Lasten von sich werfen, die würgende Faust von seiner Kehle abschütteln, seine Ketten sprengen, daß die Wolkenschicht fallen und die liebe warmer Sonne uns wieder scheinen wird. Dann wird auch das deutsche Volk den Platz wieder einnehmen, der ihm unter den Völkern gebührt.
Bremen, im Jahre 1924.
Zweiter Teil der Erinnerungen
Fortsetzung.
In schwerer Zeit des wirtschaftlichen Elends, das auf Deutschland lastet, schreibe ich eine Fortsetzung meiner Erlebnisse. Seit dem Schlusse des ersten Abschnittes bis heute, Oktober des Jahres 1932, hat die Vorsehung mich gnädig behütet, sodaß ich alle Ursache habe, zufrieden und dankbar zu sein. Im September dieses Jahres bin ich 77 Jahre alt geworden. Aber noch fühle ich mich kräftig und gesund an Leib und Seele, und noch bin ich gewillt und fähig, innerhalb der mir gesteckten Grenzen die Schönheiten zu genießen, die das Leben auch einem alten Mann noch bietet. Mit dankbarem Herzen will ich nun kurz über die Wandlungen und Ereignisse der letzten acht Jahre berichten.
Beendigung des öffentlichen Wirkens in Bremen
In dieser Zeit, im Jahre 1927, legte ich den Vorsitz der Sachverständigkeiten-Kommission des Senats nieder, nachdem ich 16 Jahre lang dieses Amt versehen hatte.
Im folgenden Jahr 1928 ergab sich die Notwendigkeit, am Unterbau des Vierungsturmes des Domes und an den dem Turm anliegenden Gewölben weitgehende Sicherungen vorzunehmen. Diese Arbeiten zu leiten fühlte ich mich außer Stande, denn die Steifigkeit des linken Kniegelenkes bestand noch (seit 1873), und seit der Operation im Jahre 1920 mir auch das linke Schultergelenk verödet und nahezu gelähmt. Gerüste durfte ich nun nicht mehr wagen zu besteigen und zu betreten. So erbat ich denn im Jahre 1928 von den Bauherren des Domes meine Entlassung aus dem Amte des bautechnischen Beraters. Mehr als 20 Jahre lang hatte ich damals am Dom und für den Dom gewirkt.
Bis heute bin ich noch Mitglied der kunsthistorischen Kommission des Senates und Mitglied des Vorstandes der Kunsthalle.
Viele Aufsätze habe ich für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, die meisten für die Bremer Nachrichten und die Weser-Zeitung. Ich habe auch die Freude gehabt, oft Vereine und Gesellschaft durch das Rathaus und den Dom zu führen, auch in der Zeit, da ich mein Amt am Dom längst niedergelegt hatte. Dabei habe ich den Besuchern immer Vorträge über die Bedeutung und die Geschichte dieser Bauten gehalten und ihnen ihre Kunstwerke erklärt.
Erkrankung
Im Juli des Jahre 1930, unmittelbar nach einem kurzen Besuche der Burg Blankenstein bei Hattingen a. d. Ruhr, überfiel mich eine Krankheit, die bei älteren Männern nicht selten ist, eine starke Vergrößerung der Vorsteherdrüse an der Blase. Ich eilte nach Bremen zurück und wurde nach einigen Wochen im Krankenhause zum roten Kreuze operiert. Schon nach 6 Wochen, am 2. September, wurde ich geheilt entlassen. Im Herbste unternahm ich eine Erholungsreise nach Lugano. Hier merkte ich bald, daß mein Herz nicht mehr so arbeitete, wie es sollte. Die Operation und die Behandlung in der Klink hatten ihm wohl zu stark zugesetzt. Auf der langen Heimreise wurde ich dreimal ohnmächtig. In Bremen steckte mich der Arzt sofort ins Bett, weil er Herzschwäche festgestellt hatte. Von diesem Übel habe ich mich aber so schnell wieder erholt, daß ich schon im Juli des Jahres 1931 eine größere Reise unternehmen konnte.
Reisen
Von den Erholungs- und Vergnügungsreisen, die ich vom Jahre 1924 [also vom Ende des ersten Teils der Memoiren an] bis heute gemacht habe, seien hier einige erwähnt. Mehrmals habe ich meine westfälische Heimat besucht, Bochum und Dortmund, Werne und Harpen. Als die größte ist die im Jahre 1928 unternommene zu nennen. Sie führte mich in Begleitung einer Freundin, der Lehrerin Fräulein Nenninger in Erlangen, über die Alpen nach Agram, dann nach Susak, dem nörlichsten Hafen Dalmatiens am adriatischen Meere, Von hier ging die Fahrt weiter zu Schiff zur Insel Arbe und nach Spalato, wo die Reste des gewaltigen Palastes Diokletians unser höchstes Interesse erregten. Wir besuchten auch die Ausgrabungen in dem nahe gelegenen Salona und das wundersame Städtchen Trau. Die Stadt Ragusa sollte das südlichste Ziel der Reise sein. Hier waren die Gasthäuser (es war die Zeit um Ostern) so stark besetzt, daß wir nur mit Mühe Unterkunft in einem Privathause finden konnten. An einem schönen Tage fuhren wir nach Trebinje, einer Stadt in der auch Mahomedaner wohnen. Die Rückkehr zum Norden wurde bis Triest mit dem Dampfer zurückgelegt. Dann reisten wir nach Venedig, das ich früher schon gesehen hatte. Am Lido war alles noch wüst und leer.
In Mannheim trennten wir uns. Im Jahre 1929 besuchte ich, wieder mit Fräulein Nenninger, den Lago maggiore. Wir wohnten bei Locarno, besuchten Pallanza und die märchenhaft schönen Inseln des Sees, und reisten ab, als das Wetter schlecht wurde. Die Fahrt ging durch das Tal Centovalle nach Genf, dann nach dem in Savoyen liegenden Badeorte Aix les Bains.
An einem Tage besuchten wir das im Gebirge liegende Kloster Grande Chartreuse. Unterwegs überfiel uns ein dichtes Schneegestöber. In den Höfen des von den Mönchen längst verlassenen Klosters lag noch tiefer Schnee. Wir verließen bald Aix les Bains und fuhren über Belfort und Straßburg, wo ich Gelegenheit hatte, Erinnerungen an die schönen, hier verlebten Tage meiner Bauführerzeit wachzurufen. Straßburg ist noch jetzt eine ganz deutsche Stadt. Seit einer Woche hatte ich auf der Reise französisch gesprochen. Als ich nun in Straßburg über eine Illbrücke ging und nach einer Weinstube suchte, in der ich vor vielen Jahren oft gesessen hatte, begegnete mir ein älterer Mann. Ich suchte mein bestes Französisch zusammen und erkundigte mich bei ihm nach jener Weinstube. Da sah er mich vorwurfsvoll an und sagte: „Worum reda Se dann nit dütsch?“ Von da ab habe ich in Straßburg nie wieder Französisch gesprochen, sondern nur deutsch.
Wieder sah ich das herrliche Münster Erwin von Steinbachs und im Innern die kunstvolle Kanzel und die wundervollen Glasmalereien.
Erwähnen will ich noch einige Ausflüge in die Lüneburger Heide und mehrere Reisen nach dem schönen Sooden an der Werra, auch eine Reise nach Westfalen, auf der ich Osnabrück, Münster und Soest besuchte. In Lüneburg und Celle (mit Kloster Wienhausen) bin ich öfter als einmal gewesen.
Eine meiner schönsten Reisen habe ich im Sommer des Jahres 1931 mit meiner Freundin Ilse Köhler aus Bremen gemacht, in einer Zeit, wo die Folgen meiner Operation noch nicht völlig überwunden waren, und ich noch einer Begleitung bedurfte. Wir fuhren die Weser hinauf bis Münden, erlebten im Kloster Korvey unvergeßliche Stunden und eilten dann über Kassel zum Süden, zunächst nach Erfurt und Weimar. Das nächste Ziel war Würzburg. Daß wir von hier aus das alte herrliche Städtlein Rotenburg ob der Tauber besuchten, ist wohl selbst¬verständlich. Wunderbar schön waren die Tagen in Jugenheim an der Bergstraße und ein Ausflug in den Odenwald über Michelstadt, Erlach und Amorbach nach Heidelberg. Im Odenwald bei Steinbach sahen wir die Reste der von Einhard, dem Schwiegersohne Karls des Großen erbauten Basilika, über deren Größe ich erstaunte. Eine andere Ausfahrt galt der Vorhalle des Klosters Lorsch aus karolingischer Zeit. Schöne Tage erlebten wir in Heidelberg, in Neckargemünd, Schwetzingen, Baden-Baden und Straßburg, wo meine jugendliche Begleiterin zur Plattform des Münsters hinaufstieg. Der Heimweg führte uns über Wiesbaden. Die Fahrt rheinabwärts wurde in Bacharach unterbrochen. Dann berührten wir Werden a. d. Ruhr. Hier trafen wir mit meiner lieben Freundin Hildegard Kaiser aus Langenberg zusammen. Sie hatte ich einst in dem Bade Sooden a. d. Werra kennen gelernt. Wir folgten ihr in ihre Heimat Langenberg, lernten ihre Eltern kennen, fuhren mit ihr zur Burg Blankenstein, und dann kehrte ich mit Fräulein Köhler über Elberfeld nach Bremen zurück.
Eine zweite Reise führte uns Beide in demselben Jahre zur Zeit der Traubenreife in das herrliche Ahrtal. Da verlebten wir in Ahrweiler prachtvolle, sonnige Herbsttage, suchten alle Orte des Tales auf, fuhren an den Rhein, an die Mosel, in das Brohltal und durch die Eifel. Da sahen wir auch die herrlich gelegene Klosterkirche Maria Laach. Wir wanderten durch das Langfigtal bei Altenahr, und jeder Morgen sah uns im Maibachtal bei Ahrweiler, wo eine in Einsamkeit und himmlischer Stille liegende Geflügelfarm willkommene Rast bot. Unvergeßlich schöne Tage!
Nicht minder reich an Reisen und Ausflügen ist das gegenwärtige Jahre 1932 gewesen. Im Februar fuhr ich, wieder mit Ilse Köhler, zu einer Besprechung mit Herrn Güldenpfennig, dem Kölner Dombaumeister, nach Köln, dann nach Hildesheim und Goslar. Später, um die Zeit der Pfingsten, habe ich mit meiner Freundin Hildegard Kaiser Naumburg und Kösen mit der Rudelsburg besucht. Wundervolle Tage verlebten wir in Weimar an den geweihten Stätten, wo unsere Großen gewandelt haben, in dem lieblich Tiefurt, das ich auch im vorigen Jahr besucht hatte, und in und bei Goethes Gartenhause. Auch Hildesheim habe ich mit ihr durchwandert.
Eine längere Reise folgte im Sommer dieses Jahres 1932, auf der mich Fräulein E. Prazack aus Bremen begleitete. Ich verfolgte zum Teil die Spuren meiner Sommerreise von 1931. Diesmal besuchte ich jedoch das schöne Sooden, um wieder einmal die Burg Hanstein zu sehen, der Blick auf den hohen Meißner zu genießen und durch Allendorfs malerische Gassen zu wandern. Am Rhein blieben wir einige Tage in dem weinfrohen Rüdesheim, und dann wurde wieder das Ahrtal aufgesucht. Zuletzt hielt uns Köln noch einige Tage zurück. Die Schönheit der Reise wurde leider durch eine gewaltige Hitze arg beeinträchtigt.
Im September dieses Jahres bin ich in der Stadt Stendal gewesen, um die herrlichen Tore und die alten Kirchen zu sehen.
Im Jahre 1918 besuchte Deutschland meine in New York wohnende Schwester Hermine. Da haben wir auch unsere Heimat und die Burg Blankenstein besucht.
Mein Sohn Liemar gab seine Stellung auf dem Gute bei Barmen auf, ging dann nach Aachen in eine Automobilfabrik, kehrte nach Bremen zurück, hörte am Technikum Vorträge über Motore u.s.w. und nahm darauf eine Stellung bei der Ford-Filiale an, um dann zur Filiale des Benzolverbandes überzugehen. Er siedelte dann nach Erfurt zu einer großen Filale des Benzol¬verbandes über, wo ein großes und wichtiges Arbeitsfeld seiner wartete. Da ist er noch heute beschäftigt. Er hat seit Jahren viele Propagandavorträge gehalten.
Die sterblichen Überreste meines ältesten in Frankreich 1918 gefallenen Sohnes Franz ruhen nicht mehr in Bourg, sondern auf dem Friedhofe bei Ceray en Laonais bei Laon, etwa 13,5 km südöstlich von dieser Stadt. Sein Einzelgrab ist Nr. 2886.
Mein Freund Geyer, Regierungsdirektor in Hannover, ist am 1. Sept. dieses Jahres gestorben. Mit diesem treuen, ehrlichen Menschen hat mich eine lange Freundschaft verbunden, die in Schleswig seinen Anfang nahm.
Meinen besten Freund Sinzig, der nun schon das 80. Lebensjahr überschritten hat, sehe ich zuweilen in der Stadt. Hin und wieder sitzen wir auch im Ratskeller, um einige Stunden in anregender Unterhaltung zu verbringen.
Bremen, im Jahre 1932.
Dritter Teil der Erinnerungen
Im Jahre 1933, am 20. Mai, heiratete mein Sohn eine Bremerin, Fräulein Ada Rita Veit. Das junge Paar ließ sich in Erfurt nieder, wo mein Sohn als Angestellter des Benzolverbandes tätig ist. In demselben Jahr machte ich eine Reise durch Bayern und an den Rhein, sah wieder Würzburg, Rotenburg, Miltenberg und Jugenheim und besuchte wieder einige Städte am Rhein.
Im Sommer des Jahres 1934 unterzog ich mich, weil mein Blutdruck zu hoch war, einer Badekur in Homburg v. d. Höhe. Dahin begleitete mich Fräulein Hildegard Kaiser. Diese Kur hatte den gewünschten Erfolg. Schöne Ausflüge in den Taunus und in das Rheinland unterbrachen die Kur. Der Heimweg führte über Münden und Hameln. In dieser Stadt sahen wir den Rattenfänger-Festzug.
In den Jahren 1933 und 9134 habe ich für die neue Auflage des Buches über Bremen von Prof. Leuchenau sieben Kapitel bearbeitet. Das Buch ist vor Weihnachten 1934 im Buchhandel erschienen. Im Sommer des Jahres 1935 habe ich eine Erholungsreise durch Bayern und Thüringen gemacht, bei der mich vom 31. Juli bis zum 25. August meine Freundin Kaiser begleitete. In Saalfeld habe ich im Kreise von Verwandten und Freunden meinen achtzigsten Geburtstag gefeiert. Es war ein schöner, harmonisch verlaufener Tag. Von Schwarzburg aus habe ich die Wartburg und die Burg Lauenstein, auch die Kirchenruine Paulinzella besucht. Ich besuchte die Städte Hersfeld, Würzburg, Bamberg, Sooden-Allendorf und machte wieder eine Dampferfahrt von Hameln nach Münden. Auch in Kreglingen, Rothenburg und Bad Mergentheim bin ich gewesen. Die genannte Dampferfahrt fand im Anfange der Reise statt.
Am 24. Februar 1936 wurde in Erfurt mein erster Enkel geboren. Er erhielt nach meinem gefallenen Sohne und nach meinem Großvater Ehrhardt die Namen Franz Friedrich Gotthelf.
Im Jahre 1936 ist mein Sohn nach Osnabrück versetzt worden.
Um Ostern des Jahres 1936 war ich einige Wochen in Weimar.
In der Osterzeit 1937 habe ich eine Reise in den Harz gemacht, mich in Goslar uns Harzburg aufgehalten.
Im Juli des Jahres 1937 bin ich mit Frl. Kaiser nach Lauterbad bei Freudenstadt im Schwarzwald gereist. Von dort haben wir mit Auto Straßburg, Alpirsbach, die Hornisgründe und den Bodensee besucht. Nach reichlich 4 Wochen sind wir über Heidelberg nach Mainz gereist und auf dem Rhein über St. Goar, Bonn, Köln zurückgekehrt. Diese Reise war vom schönsten Wetter begeleitet. Lauterbach ist ein kleines Dorf mit 5 Bauernhöfen und einem Hotel, etwa 3 km von Freudenstadt entfernt.
Um Ostern 1938 führte uns, Frl. Kaiser und mich, eine Erholungsreise an die Bergstraße. Dann hielten wir uns in Lindenfels im Odenwalde auf. Von da unternahmen wir Autofahrten nach Michelstadt (mit der Einhard-Basilika) und Erbach, später zur Wachenburg und der Berg-Straße von Weinheim bis Jugenheim. Auf der Heimreise besuchten wir das Museum in Darmstadt, um das Bild von Holbein d. Jüngeren: „Die Madonna des Bürgermeisters Meyer“ zu sehen.
Einen Teil der Wochen der Erholung verbrachte ich im Sommer des Jahre 1938 mit Fräulein Kaiser in der Fuchs’schen Mühle bei Weinheim. Da aber dort die Hitze uns zu sehr plagte, siedelten wir nach Lindenfels über. Von da machten wir einen Ausflug nach Michelstadt, Amorbach und nach der Ruine Wildenberg und einen anderen nach Lorsch, Worms, Speyer und Schwetzingen. Auf der Burg Wildenberg hat Wolfram von Eschenbach sich längere Zeit aufgehalten.
Nachdem ich im Februar des Jahres 1939 mich mehrere Wochen in einer Augenklinik aufgehalten hatte, fuhr ich zur Erholung im April nach Tabarz bei Gotha, in Begleitung meiner Freundin Hildegard Kaiser. Wir waren auf dem Inselsberge, dem höchste Berge des Thüringer Waldes. Im Juli desselben Jahres fuhr ich zu Erholung mit ihr nach Rhöndorf. Dieser Ort liegt am rechten Rheinufer, am Fuße des Drachenfels zwischen Königswinter und Honnef. Ich war dort, bis der Krieg gegen Polen ausbrach. Meine Rückkehr nach Bremen war schwierig, die Fahrt hat 4 Tage gedauert. Ich mußte in Hamm, Münster u. Osnabrück übernachten. Als ich in Hamm war, erklärte uns England den Krieg. In Rhöndorf hielten wir uns etwa 5 Wochen auf. In der Nähe liegen am Drachenfels ausgedehnte Weinberge.